Von Malte Hemmerich, 19.06.2018

Einsame Spitze?

Wenige Festivals sind wirklich unverwechselbar. Das Aldeburgh Festival hat nicht nur einmalige Spielorte und ein innovatives Programm zu bieten, sondern auch eine wirklich große Vision für die nächsten zehn Jahre. Wir waren beim Eröffnungswochenende an der englischen Ostküste.

Das Städtchen Aldeburgh an der englischen Ostküste wirkt nicht gerade wie der Traum eines Musikfestivalmanagers: drei kleine und recht teure Hotels, keine Zuganbindung und konzerttüchtige Orte nur in der weiteren Umgebung mit Wegen bis zu 20 Kilometern.
Eigentlich sind sowieso die Möwen die wahren Herrscher der Stadt. Wenn morgens die Fischerboote zurückkommen, sind die großen Vögel das einzige Begrüßungskomitee, das an der Promenade schon aufgeregt schnattert. Ansonsten kann man bis mittags unter der Woche kilometerlang herumlaufen, ohne einem der gut 2000 Einwohner der Küstenstadt im englischen Suffolk zu begegnen.

Und doch ist das Aldeburgh Musikfestival, das jährlich im Juni stattfindet, eine der stimmigsten und qualitativ hochwertigsten Veranstaltungen dieser Art. Als erstmaliger Besucher ist man geradezu geflasht von der Atmosphäre, dem omnipräsenten Wissen und Kümmern um Musik und nicht zuletzt den grandiosen Konzertorten. Das liegt zum einem daran, dass der Begründer des Festivals, Benjamin Britten, fast sein ganzes Leben in dieser Umgebung zubrachte. Jeder, der Aldeburgh und den Stoney Beach besucht, spürt den Geist seiner Musik. Anders als Mozart in Salzburg oder Beethoven in Bonn, war der Komponist hier auch wirklich glücklich und zufrieden. Und er selbst entschied sich bewusst, ein Festival in der englischen Pampa zu initiieren.

Brittens letztes Anwesen, das Red House, zeigt sein Kompositionsstudio und seine Bibliothek, sowie wechselnde Ausstellungen, die zum Festivalthema des Jahres passen. Dass mehrere Gärtner die Pflanzen pflegen und den Rasen englisch penibel stutzen und dass an jeder Ecke informationsfreudige Mitarbeiter stehen, ermöglicht bis heute Brittens Testament. Die Rechte an seinen Aufführungen bringen der Britten-Pears-Foundation jährlich noch immer rund eine Million Pfund ein.

Das Werk Brittens steht natürlich auch im Mittelpunkt des musikalischen Programms. Am Eröffnungswochenende wird seine Zeit in Amerika beleuchtet und dazu seine Werke mit denen Bernsteins und Coplands kombiniert. Ein besonders spannender Protagonist ist dabei der Dirigent und Kurator der Konzerte des Eröffnungswochenendes. Dirigent John Wilson wird in England beinahe schon gefeiert wie ein Currentzis auf dem Kontinent, hat aber einen ganz anderen Hintergrund. Der Engländer ist durch Einspielungen alter Musicals berühmt geworden, wagt sich aber auch immer an anderes Repertoire heran. Die Musiker des BBC Scottish Symphony Orchestra wirken selbst ein wenig geschockt, wie rabiat sie die Sinfonia da Requiem von Britten tönen lassen, wie ähnlich die Musik dabei der Sinfonie Nr. 2 von Leonard Bernstein klingen kann.

Wilson arbeitet effektvoll, aber nicht oberflächlich. Am zweiten Abend sind es die berühmten „Sea Interludes“, in denen das Blech grenzwertig fetzt, Wilson die einzelnen Orchestergruppen anschiebt und dann laufen lässt. Obwohl ein englisches See-Gemälde, ähneln sie den Prärietönen in Coplands „Billy The Kid“. Erkenntnisreiche Werkkombinationen!
Am letzten Abend des Wilson-Wochenendes steht dann das berühmte John Wilson Orchestra mit Bernsteins Musical-Höhepunkten voll im Saft und überzeugt mit Detailfreude und grandiosen Sängern selbst den sonst schnell musicalmüden Kritiker.

Die meisten Konzerte des Festivals finden in Snape Maltings statt, einer malerisch gelegenen Holzkonstruktion im Schilf nahe dem Dorf Snape. Die Halle hat eine geniale Akustik und unbequeme Holzsitze, der Gebäudekomplex umfasst noch die modernen Britten-Studios für Kammermusik, sowie diverse Läden und Pubs. Weitere Aldeburgh-Spielstätten sind auch noch malerische Kirchen im Ort selbst, wenige Meter entfernt vom Grab Benjamin Brittens, und in Blythburgh. Immer mittags spielen diverse Bands, die am Strand für kleine Menschenaufläufe sorgen.

Neue, spannende Musik nimmt einen großen Teil des Festivals ein. An diesem Wochenende kommt die Oper „To See The Invisible“ der jungen Komponistin Emily Howard zur Uraufführung. Nach einer Geschichte von Robert Silverberg erzählt sie hier sehr mutig und melodiefreudig die Geschichte von Freud und Leid eines unsichtbar gewordenen Mannes und schreckt auch nicht davor zurück, Mozarts Opern in ihrem Stück zu verwursten. Heraus kommt eine spektakuläre, reißerische und nie langweilige Kurzoper. Das Stück entstand zu großen Teilen im Rahmen einer Aldeburgh-Residenz, in der Howard eng mit Librettistin und Regisseurin zusammen arbeiten konnte.

Das Potenzial einer so abgeschiedenen und doch am Puls der musikalischen Zeit liegenden geschichtsträchtigen Location, in der Künstler gemeinsam Projekte entwickeln, soll in den nächsten Jahren noch stärker genutzt werden.
Geschäftsführer von Aldeburgh Music ist Roger Wright; zuvor leitete er die weltweit bekannten BBC Proms, er hält sich am liebsten im Hintergrund, hinter seinen Künstlern. Bei meist ausverkauften Konzerten, hoher künstlerischer Qualität und viel Zuspruch von den Medien könnten er und sein Team sich zufrieden zurücklehnen. Aber Wright verfolgt einen klaren Plan und ein Ziel für die nächsten zehn Jahre: Aldeburgh soll seinen Charme erhalten, Brittens Erbe weiter fördern, aber gleichzeitig ein international führender Kreativcampus für Künstler und Musiker werden.
In den letzten Jahren kauft man so verstärkt Immobilien um Snape Maltings herum und renoviert und schafft. Da das Festival auch mit seinem außergewöhnlichen Programm eben immer die eher mutigen und neugierigen Künstler anzieht, wird der kreative Ort sicher immer gut bevölkert sein, hier kann Großes entstehen. All diese Ideen, und das macht das Konzept wohl nicht auf jedes kleine x-beliebige Festival übertragbar, stammen aus dem Kopf Brittens, des Musikers, Dirigenten und Komponisten, der alle Seiten des Musikbusiness erlebte und wohl auch schon in den 50er Jahren erkannte, was es in Zukunft braucht.

Das Interview mit Roger Wright

© Malte Hemmerich
John Wilson Orchestra © Matt Jolly


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