Die Aufnahmen der „Deutschen Grammophon“, ebenso wie die von EMI (heute Warner) und Decca, stehen für Qualität und das Besondere. Sie versprechen höchste Standards. Als Kind wurde wohl manch ein heutiger Mittzwanziger von musikerfahrenen Erwachsenen auf diese Schlagsätze getrimmt.
Früher hatte es fast etwas Andächtiges: Wenn zuhause Musik von Karajan und den Wiener Philharmonikern tönte oder von Martha Argerich, und auf dem CD-Spieler lag eine Hülle, auf der das auffällige gelbe Logo prankte. Das war Musik, das waren Persönlichkeiten, die man nicht erklären musste.
Ein paar Jahrzehnte später feiert ebendiese legendäre „Deutsche Grammophon", die goldenen Zeiten der CD und Platte sind endgültig vorbei, seltsamerweise einen 120. Geburtstag unter dem schnittigen Motto „DG120“. Mit Ankündigungen, Jubiläumseditionen und Konzerten, vor allem in Asien, dem wohl letzten Markt, auf dem die altehrwürdigen Labels mit Klassik noch so punkten können. Es ist beispielhaft für eine ganze Branche: Genauso wie alle großen Klassiklabels immer mehr Events vermarkten, oder jeden neu gesignten Künstler mit einer exzentrischen Geschichte ausstatten, scheint auch dies wie ein verzweifelter Versuch, Aufmerksamkeit zu generieren. Hurra, wir leben noch! Schade, dass die Labels, deren Bedeutung für die jüngere Musikgeschichte unbestritten ist, diese anbiedernden Wege gehen müssen, um nicht komplett in der Bedeutungslosigkeit zu verschwinden. Sind sie selbst schuld oder ist das alles nur die böse, unaufhaltsame Digitalisierung?
Hurra, wir leben noch!
Natürlich, den Streamingstart hat man ein bisschen verschlafen und wird jetzt eilends Partner von Diensten wie Apple Music oder des Startups Idagio. Da zumindest wird man weiter im Premium-Bereich bleiben, auch wenn unklar ist, wie eine möglicherweise nachwachsende Zielgruppe auf diesem Sektor angesprochen werden soll. Nun, Markenbindung bei den jüngeren Kunden soll offensichtlich doch eher offline gelingen: Die „mittlerweile kultigen“ Yellow Lounges – hier treten die Deutsche Grammophon-Stars in Clubatmosphäre auf – stecken bestimmt auch heute noch als cooles Event in einigen jugendlichen Erinnerungen. „Yellow“ bleiben für die Mittzwanziger trotzdem vor allem die Simpsons und Coldplays erste Hit-Single. Unwahrscheinlich, dass so der Schritt zu Emil Berliners Grammophon klappt.
Aber was ist derweil mit dem Herzstück-Geschäft geschehen, der Aufnahmeproduktion und Vermarktung? Der Vorsprung scheint aufgebraucht: Spannende, gute Neuerscheinungen sucht heute kein junger Musikliebhaber mehr vorrangig bei den großen Labels, sofern sie überhaupt noch wissen, was das bedeutet, ebenso wenig, wie neue Referenzaufnahmen. Da machen die kleinen Labels einen viel aufregenderen Job, und die Streamingdienste alles sofort vergleichbar. Stattdessen setzt man bei den Majors auf die Kommerz-Sicherheit des Erprobten, macht den hundertsten Brucknerzyklus, diesmal eben mit Andris Nelsons, oder bringt klingende Namen wie Daniil Trinfonov und Anne Sophie Mutter zum Forellenquintett zusammen – künstlerisch mit gerade einmal mittelmäßigem Ergebnis.
Statt weiterhin mit hohen Qualitätsstandards herauszustechen, werden die gesigneden Künstler in der Klassik, wie im Fußball, immer jünger. So verpflichtete man beispielsweise beim gelben Label vor einiger Zeit mit dem 15-jährigen Daniel Lozakovich das „jüngste Mitglied der DG-Familie“, der bei Live-Auftritten scheinbar ultranervös und hörbar fehlerhaft spielte. Nun muss sich so ein junger Künstler erstmal ohne Druck entfalten dürfen, aber ist die DG nicht eher gnadenlos auf Profit ausgerichteter Branchenriese als eine nette Organisation zur Entwicklungshilfe? Mit Lozakovich geht es noch einmal glatt, seine neueste Bach-CD ist gut anzuhören. Es ist ungewiss, ob der junge Geiger trotz oder dank der „Deutschen Grammophon“ endlich seinen eigenen Ton findet.
Statt wie in den alten Zeiten vielversprechende Künstler über Jahrzehnte zu begleiten, scheinen die großen Klassiklabels derzeit, dem Publikum um Meilen hinterhechelnd, bei kurzfristig aufgebauten Stars mit spannenden Lebensgeschichten oder äußeren Unterscheidungsmerkmalen angekommen zu sein. Kurzum, in den Vermaktungsstrategien der Popmusik. Leider sind auch diese mittlerweile 20 Jahre überholt, und in diesem Narrativ vermag Klassik nie annähernd zu punkten, wie die darauf ausgerichtete schillernde Schwester. Vielmehr fällt ihr größter Schatz, die Musik selbst, in dieser Art der Kommunikation zunehmend unter den Tisch.
Natürlich gibt es nicht die eine Lösung, und es ist löblich, neue Wege zu gehen. Doch ein bisschen mehr wirkliche Innovation und Risikofreude bei Projekten könnten den Majors gut tun. Sich vielleicht auch mal wieder ein richtiges, scharfes Profil zu leisten. Denn was hat man eigentlich noch zu verlieren? Und sicherlich wäre die Energie hier besser investiert als im abgefeierten Event eines x-beliebigen Geburtstages. Wir wissen, dass Ihr noch da seid!
© Stefan Hoederath