Von Hannah Schmidt, 19.04.2018

Marke: unbekannt

Der Pianist Ivan Ilić springt gerne für Musik in die Bresche, die sonst wohl nie zur Aufführung kommen würde. In seinen jüngsten Projekten widmet er sich dem Komponisten Anton Reicha, einem Zeitgenossen Beethovens. Warum er das macht und was so immens schwer daran ist, erzählt er im Interview.

Zuerst sieht es so aus, als sollte seine Reise ins ferne Hamburg nicht sein: Ivan Ilić sitzt am Flughafen von Bordeaux, die Sonne scheint durch die große Glasfassade am Gate, er wartet auf die nächsten Ansagen aus dem Lautsprecher. 15.000 Flüge sind an diesem Aprilvormittag verspätet oder fallen aus, einer davon ist seiner. „Ich werde einen Weg finden, nach Hamburg zu kommen“, tippt er trotzig in eine e-Mail, „und wenn ich auf einer Ziege reiten muss!“ Große Entschlossenheit treibt ihn an, unbändiger wissenschaftlicher und künstlerischer Ehrgeiz: Im September veröffentlichte der Pianist eine CD mit Klavierwerken von Anton Reicha, völlig unbekannte Stücke, die niemand zuvor eingespielt hatte – 68 Minuten Musik, die der Zeitgenosse Beethovens und Lehrer César Francks und Franz Liszts als junger Mann komponierte, und zwar in Hamburg.
Etwa 30 Stunden später sitzt Ilić dann für unser Interview in einem Café in der Hafenstadt, endlich, nach mehreren Stunden der Stadt-Erkundung. Dabei hat er ein dickes Buch, „Anton Reicha – Unbekannte und unveröffentlichte Schriften“. Ein paar Kapitel im Inhaltsverzeichnis hat er mit Textmarker angestrichen, aus den Seiten schauen hineingelegte Zettel mit Notizen. Ivan Ilić schiebt das schwere Buch erst zur Seite, als die Kellnerin den bestellten Minztee bringt.

niusic: Anton Reicha scheint es Dir angetan zu haben.
Ivan Ilić: Das hat er! Aus meiner Sicht heute, im Jahr 2018, ist er viel interessanter als viele seiner Zeitgenossen.

niusic: Das ist eine starke Aussage – immerhin war er ein guter Freund Beethovens, Haydn lebte und komponierte zur gleichen Zeit …
Ivan Ilić: Richtig. Aber Beethoven ist ja auch kein normaler Komponist. Er ist eine mythische Figur. Wenn Du Dir einen Großteil der Musik anhörst, die zur gleichen Zeit geschrieben wurde, ist das im Vergleich mit ihm sehr konventionell. Aber Reicha ist genau so ungewöhnlich – nur eben auf eine andere Art.

niusic: Wie kann denn einer vergleichbar ungewöhnlich sein wie Beethoven zu der Zeit?
Ivan Ilić: Ganz konkret: Reicha hat beispielsweise im Jahr 1818 34 Etüden komponiert, op. 97, und schrieb diese Etüden im Stil von Präludien und Fugen wie Bach. Hättest Du mir vor fünf Jahren erzählt, ich würde einen Komponisten entdecken, der im 19. Jahrhundert so etwas schreibt, hätte ich Dich für verrückt gehalten.



niusic: Aber ist das nicht extrem rückschrittig?
Ivan Ilić: Im Gegenteil – Beethoven hat ja auch ein paar Fugen geschrieben in seinen späteren Werken, und die wurden als sehr seltsam wahrgenommen. Es war nicht mehr zeitgemäß, oder eben noch nicht wieder zeitgemäß. Reicha nimmt zwar diese alten Formen, aber bricht innerhalb dieser Formen alle Regeln.

niusic: Wo ist eine Fuge 47 ohne Regeln noch eine Fuge?
Ivan Ilić: Wenn eine Fuge, sagen wir, in C beginnt, dann käme der Comes 198 in der Dominante, also in G. Bei Reicha kann die Antwort auf das erste Thema aber in irgendeiner Tonart sein. Er nimmt die klassische Ästhetik – ja, es ist immer noch polyphon, wir haben immer noch verschiedene Stimmen –, aber er bewegt sich darin in jede nur mögliche Richtung. Das ist für mich als Interpret extrem verwirrend.

  1. Was für eine barocke Rollenverteilung! Der Dux schreitet ins Stück, er übernimmt die Führung, bis der Comes sein Thema aufnimmt und sich mit der vorgestellten Melodie unter ihn schichtet, während der Dux fortfährt. Beide können nicht ohne einander und nähren sich vom anderen. (CW)

  2. Fugen sind das reinste barocke Fangspiel! Das Hauptthema, der Dux, schreitet als Führer voran, der Comes, sein Begleiter, jagt ihm hinterher – in gebührendem Dominant-Abstand, wie es sich gehört. Beide laufen nebeneinander her, überkreuzen und umschlingen sich, bis die Cembalistenhände schlackern. (AJ)

niusic: Hat Reicha nicht auch eine Fantasie 203 über einen einzelnen Akkord geschrieben?
Ivan Ilić: Ja, das ist Minimalismus! Nur eben 170 Jahre früher, in Hamburg. Das hier war seine kreativste Zeit, sein Labor.

niusic: Und was erzählt uns das über Beethoven?
Ivan Ilić: Die beiden kannten sich. Sie waren befreundet. Sie lebten beide in Wien. Im Jahr 1804 hat Reicha 57 Variationen geschrieben, op. 57, die insgesamt eine Stunde dauern. Das ist schon ungewöhnlich genug. 1819 bis 1823 schreibt Beethoven dann seine Diabelli-Variationen, die auch eine Stunde dauern. Beethoven kannte Reichas Stück. Ich sage nicht, dass er ihn kopiert hat, das nicht – aber interessant ist diese Verbindung trotzdem.

  1. Wenn Carl Philipp Emmanuel Bach sich ans Cembalo setzte und dem Strom seiner Musik freien Lauf ließ, war er ganz eins mit sich und dem Instrument. Zuschauer beschrieben diese expressiven, empfindsamen Improvisationen als Fantasieren. In Noten gefasst wurden aus den fantastischen Blüten Meisterwerke der freien Form. (AJ)

niusic: Also hören wir jetzt auch Beethoven anders, nachdem wir deine Reicha-Aufnahme kennen.
Ivan Ilić: Genau! Die Stücke, die ich eingespielt habe, sind noch nie zuvor eingespielt worden. Ich habe sie sehr sorgfältig ausgewählt und bin von ihrer Qualität überzeugt. Sie zu hören liefert uns ein kompletteres Bild von dem musikalischen Kontext, in dem sich Haydn, Beethoven und ihre Zeitgenossen bewegt haben.


niusic: Gehen wir mal einen Schritt zurück: Wie bist Du überhaupt auf Anton Reicha gekommen?
Ivan Ilić: 2014 habe ich ein großes Projekt zu Morton Feldman gemacht, was wirklich interessant war, nur brauchte ich für die Konzerte einen Kontrapunkt, etwas komplett Gegensätzliches. Ich wusste, dass es viel romantische Musik gibt, die sich sehr dafür eignen würde, aber ich hatte kein Interesse daran, etwas zu spielen, was schon 1000 andere Pianisten gespielt haben. Also habe ich nach etwas Ungewöhnlichem, Unbekanntem gesucht und Anton Reichas Fugen op. 36 gefunden. Ich habe sie gespielt und mich sofort in die Musik verliebt. Kurz darauf kam ein französischer Verleger zu mir und wies mich darauf hin, dass Reicha noch eine ganze Menge weiterer Klaviermusik geschrieben hat, die noch nie zuvor gespielt wurde. Und ich habe mir alles geben lassen, was er hatte, insgesamt acht Stunden Musik.

niusic: So eine Menge an Musik zu entdecken und zu filtern ist aber auch nicht ohne …
Ivan Ilić: Ich denke, das Schwierigste dabei war, dem Komponisten zu vertrauen. Es ist schon ein bisschen gruselig, wenn etwas vorher noch nie gespielt wurde, denn Du hast immer Angst, dass das aus gutem Grund so ist. Aber die Fugen, die ich gespielt hatte, waren wirklich gut. Wenn also ein Komponist, dachte ich mir, in der Lage ist, zwei Stunden wirklich gute Klaviermusik zu schreiben, dann ist das kein Zufall.

niusic: Wie interpretierst Du denn diese Musik, wenn Du so gar keine Referenzen hast?
Ivan Ilić: Ich versuche mich eben so gut es geht über den Komponisten zu informieren. Reicha würde ich also eher wie Haydn statt wie Beethoven interpretieren, sehr klar und durchsichtig.

niusic: Naja – auf der CD klingt vieles sehr hallig und groß, sehr romantisch.
Ivan Ilić: Das liegt an dem Raum, in dem ich die Sachen aufgenommen habe. In der Halle in Genf ist die Bühne riesengroß und komplett aus Holz, alles schwingt mit. Dort trocken zu spielen, würde grässlich klingen. Manche Leute sagen sogar, das letzte Stück auf der CD klingt wie Satie …

Auf Mission in Hamburg

Ivan Ilić hat in Hamburg die dritte Folge einer mehrteiligen Video-Serie zu Anton Reicha gedreht.
Die fünf- bis sechs-minütigen Videos erzählen Reichas Leben und Wirken anhand von Anekdoten über den Komponisten. „Es geht mir darum, etwas über den Komponisten zu erzählen, was wahr ist und gleichzeitig interessant“, sagt Ilić. „Ich erzähle weder von mir als Interpret mit meinen Vorlieben und Geschmäckern, noch berichte ich stumpf die Biografie.“ Seine Videos haben inhaltliche und musikalische Tiefe zum Ziel, sollen keine Promo-Videos für ihn als Interpreten sein.
Reicha floh mit 25 Jahren nach Hamburg, als die französischen Truppen seine Heimatstadt Bonn erreichten. „Er hat Hamburg gehasst“, sagt Ilić. „Er war krank, hatte Fieber und Schlafstörungen, das Klima hat ihm zugesetzt.“
Gleichzeitig komponierte er seine wohl experimentellste Musik, darunter ein Stück im 5/8-Takt, „was Bartók und Strawinski gemacht haben, im Jahr 1910. Das hier war 1795.“

niusic: Du spielst fast nur unbekannte Stücke aus älteren Epochen, aber auch Stücke, die nur für Dich komponiert wurden. Ist das Deine Marke?
Ivan Ilić: Es hat begonnen, meine Marke zu werden, ja.

niusic: Wann hast Du damit angefangen?
Ivan Ilić: Eigentlich schon als Student. Ich habe immer, wenn es darum ging, aus einer Auswahl von Stücken eines auszusuchen, das genommen, das niemand sonst gewählt hätte. Heute ist es immer noch so. Ich glaube, ich fühle mich freier, wenn ich nicht so starke Referenzen habe, es fühlt sich an, als gehöre das Stück ganz zu mir.

niusic: Nur gehört das doch ganz essenziell dazu, als Interpret, noch dazu als Pianist, verglichen zu werden …
Ivan Ilić: Ja, und das ist hart. Es kann Dich kaputtmachen. Als Interpret kannst du dem Druck kaum entkommen, Dich an der CD zu messen, auf der Daniel Barenboim oder András Schiff das gleiche Stück schon perfekt gespielt haben. Aber in Bezug auf Konzerte ist es einfach besser, genau das zu machen, um die Reihen zu füllen.

niusic: Also kommen die Leute wegen des Repertoires und nicht wegen des Interpreten.
Ivan Ilić: Absolut. Sogar ich wäre vor 20 Jahren in kein Konzert gegangen, in dem irgendwer Anton Reicha gespielt hätte. Vergiss es. Die Leute sind offen, wenn ein Interpret, den sie nicht kennen, Musik eines bekannten Komponisten spielen. Anders herum funktioniert das weniger gut.

niusic: Aber meinst du nicht, dass sich das verändert hat in den letzten Jahren?
Ivan Ilić: Ja, auf jeden Fall. Beispielsweise spielt doch der kanadische Pianist Marc-André Hamelin sehr viel fremdartiges Repertoire und ist trotzdem sehr erfolgreich – denn der Beginn seiner Karriere fiel genau in die Zeit, in der das Internet begann, die Musik zu verändern. Man konnte plötzlich innerhalb von Sekunden alles über einen Komponisten erfahren, die Leute wurden neugieriger. Nur 20 Jahre früher hätte er nie diesen Erfolg gehabt. Heutzutage ist er sogar viel interessanter als jemand wie Evgeny Kissin, der ein toller Pianist ist, aber, mal ehrlich: Was er macht, ist wirklich nicht interessant – ich spreche über seine musikalisch-philosophischen Entscheidungen. Wenn Du Interpret bist, ist die größte Entscheidung, die Du triffst, diejenige, was Du spielst.



niusic: Würdest Du so weit gehen zu sagen, wir brauchen Beethoven nicht mehr?
Ivan Ilić: Wir brauchen beides, das Bekannte und das Unbekannte. Beispielsweise die Sonate op. 62 in Es-Dur für Klavier Hob.XVI:52 von Joseph Haydn wird jetzt gerade, an diesem Tag, sagen wir, 1500 Mal gespielt. Und ein anderes Stück von ihm nur zwei Mal im ganzen Jahr. Wirkt das ausgewogen auf Dich? Es ist schon eine Art politische Entscheidung, die man trifft, für eine Minderheit.

niusic: Was ist mit Musik von Frauen?
Ivan Ilić: Ein großes Problem! Ich habe dieses Jahr nicht ein Stück von einer Komponistin gespielt, kannst Du Dir das vorstellen? Und in 15 Jahren würde jemand wie ich vielleicht maximal 30 Prozent Musik von Frauen spielen. Ist das fair? Nein. Das ist ein politisches Ungleichgewicht.

niusic: Was ist so schwer daran, unbekannte Musik einfach ins Repertoire zu nehmen?
Ivan Ilić: Es ist psychologisch schwer. Stell Dir vor, Reichas Musik wäre schlecht, und ich hätte fünf Jahre meines Lebens, die wichtigsten fünf Jahre meiner Karriere, damit verbracht, Musik zu promoten, die scheiße ist. Was wäre, wenn ich mit 60 Jahren aufwache und erkenne, Oh Gott, das war wirklich schlechte Musik? Wenn Du Beethoven spielst, hast Du dieses Problem nicht. Du weißt ja, dass es ein Meisterwerk ist.

niusic: Was ist dann Deine Aufgabe als Interpret?
Ivan Ilić: Es ist schon ein bisschen idealistisch. Für mich bedeutet Interpret zu sein, starke Entscheidungen zu treffen: was ich spiele, wo, warum, wofür. Für mich als Interpret sind es die schwersten und stärksten Entscheidungen, die ich kenne.

niusic: Warum sind diese Entscheidungen so schwer?
Ivan Ilić: Es ist ein bisschen, als versuche man, eine Welle zurückzudrücken, einen Tsunami. Aber Du bist nur ein einzelner Mensch, und es ist komplett vergeblich, weil Du natürlich keinen Erfolg damit haben wirst ...

niusic: Und wofür steht die Welle?
Ivan Ilić: Für die Tradition, die letzte schlechte Performance, zu hören, wie wir hören – eigentlich für alles, was wir tun, weil wir faul sind. Als Zuhörer, als Musiker, auch als Komponisten. Wir hören am liebsten Dinge, die uns vertraut sind. Das sind neurologische Gewohnheiten, das ist ja auch okay, aber jedes Mal, wenn Du ihnen nachgibst, wirst Du ein bisschen dümmer.

niusic: Wir brechen also die Gewohnheiten, um was zu erreichen?
Ivan Ilić: Intellektuelle Transzendenz? (denkt nach) Das ist nur meine Meinung. Es gibt Menschen, die sind neugieriger als andere, zu denen zähle ich mich – und für diese Menschen mache ich Musik.

© Martin Teschner


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