Trommelfellperforierendes Uhrenticken am Strand von Dünkirchen, furioser Aufmarsch der Storm Trooper oder nostalgische Harfe, in schmeichelnd weich fließende Streicherklänge gebettet: Die Filmmusiken, die 2018 für einen „Oscar“ der amerikanischen Academy of Motion Picture Arts and Sciences nominiert sind, könnten nicht breiter aufgestellt sein. In Guillermo del Toros Retro-Romanze „The Shape of Water“, einem der Oscar-Favoriten, sind hingegen die Reihen im Lichtspieltheater mit seinen altbackenen Sandalenfilmen tagtäglich so leergefegt, dass das Amazonas-Monster auf der Flucht keine Panik auslöst. Dafür aber dem Zuschauer einen jener flüchtigen Momente beschert, in dem sich das Kino in sich selbst verliebt. Entpuppt sich in Zeiten von Netflix, Amazon Prime & Co., die inzwischen mit größeren Budgets und denselben Stars produzieren wie Hollywood, der gute alte Kinobesuch letzten Endes als Auslaufmodell?
niusic: Herr Strobel, wann sind Sie zuletzt selbst im Kino gewesen? Und war das als Besucher oder als Dirigent von Filmlivemusik?
Frank Strobel: Das war tatsächlich gestern, ich bin gerade auf der Berlinale, schaffe im Schnitt zwei Filme pro Tag. Gestern war das „3 Tage in Quiberon“, ein Film über Romy Schneider, der mir ausgesprochen gut gefallen hat, auch in seiner Schwarzweißästhetik.
niusic: Können Sie Kinofilme noch entspannt besuchen, oder hört der Musikprofi in Ihnen immer auch analysierend zu?
Frank Strobel: Gottseidank habe ich noch eine Art Besuchermodus, wenn ich einen Film zum ersten Mal sehe. Das ist für mich ein Gesamtkunstwerk, eine Einheit, in die ich mich fallen lassen kann, wenn sie gut ist. Aber wenn ich danach das Gefühl habe, da war etwas Interessantes in der Musik, gehe ich ein zweites Mal rein. Dann als analytischer Hörer. Es ist kein Wunder, dass man relativ schnell eine Dialogstelle zitieren, aber die Musik nicht so leicht aus dem Gedächtnis wiedergeben kann. Musik wirkt auf einer tieferen, unbewussteren Schicht als Sprache.
niusic: … sie kann ja das Geschehen verstärken oder unangenehm widersprüchlich kommentieren.
Frank Strobel: Das ist das Faszinierende an Filmmusik, dass sie sich nicht auf eine Funktion festlegen lässt. Sie kann Atmosphäre schaffen oder einen Raum, die Handlung konterkarieren – und all das nicht nur hintereinander, sondern auch parallel.
niusic: Was macht für Sie gute Filmmusik aus?
Frank Strobel: Wenn die Musik ein Bestandteil der Erzählung wird, den Film miterzählt, wie auch die Wahl der Schauspieler, Beleuchtung, Kameraführung, Schnitt. Ist sie bloße Staffage, finde ich sie langweilig. Gute Filmmusik hat immer eine dramaturgische Funktion, und das erreicht man mit verschiedenen kompositorischen Möglichkeiten. Nicht umsonst arbeiten viele Filmmusiken etwa noch immer mit Leitmotiven. Oder nutzen Musik zur Erzeugung von Spannung, da hat sie eine unglaubliche Macht.
Dirigent Frank Strobel
niusic: Wenn man die für den Oscar nominierten Scores vergleicht, entdeckt man eine riesige Bandbreite. Leben wir in einem Goldenen Zeitalter der Filmmusik?
Frank Strobel: Dazu müssen wir erst einmal definieren, was Filmmusik ist: Im Prinzip jede Musik, die in eine funktionale Verbindung mit bewegtem Bild gebracht wird – das kann von der Renaissancemusik bis zum romantischen Hollywoodsound, Techno und Pop alles sein.
Sprechen wir konkret vom „Golden Age“ der Filmmusik, dann meinen wir die großen sinfonischen Scores. Noch immer arbeiten drei Viertel der heutigen Blockbusterfilme damit, insofern hat dieses Goldene Zeitalter nie aufgehört. Die sechziger Jahre brachten den Jazz ein, die achtziger den Rock. Aber ein Paukenschlag war 1977 die Filmmusik zu „Star Wars“ von John Williams, das verdeutlichte allen die Dimension von sinfonischer Musik im Kino. Und infolge brachen auch für die Sinfonieorchester in der Filmmusik noch einmal goldene Zeiten an.
niusic: Und mit „Star Wars – Die letzten Jedi“ feiert Altmeister Williams mit einer Sternen-Partitur unter den diesjährigen Nominierten sozusagen fröhliche Urständ.
Frank Strobel: Zwei Takte, und man hört sofort, das ist John Williams. Sogar in Bearbeitungen, etwa der Olympiahymne, die Williams auf Musik von Arnaud für Los Angeles komponiert hat. Einen ähnlichen Wiedererkennungswert haben aber auch Danny Elfman in seinen Arbeiten für Tim Burton oder Jerry Goldsmith.
niusic: Sehen Sie in der Lust am Zitat vergangener Musikstile wie in „The Artist“ 2012 und dem großen Revuescore wie „La La Land“ 2017 eine Strömung in der Filmmusik?
Frank Strobel: Auf alle Fälle! Auch der Erfolg von „The Artist“ beruhte auf dem Eintauchen in eine Zeit, die bereits 90 Jahre her ist. Das mag vielleicht mit beunruhigenden Entwicklungen in der Welt zu tun haben, in der wir leben. Aber ich denke, dass das Publikum ein Bedürfnis nach Live-Aufführungen und dem gemeinsamen Erlebnis hat. Gerade habe ich gelesen, dass 2017 das erfolgreichste Kinojahr überhaupt war. Natürlich spielt da eine Tendenz zu Opulenz, zu Ereignishaftigkeit, zum Abtauchen in andere Welten eine Rolle. Ich sehe das als eine Gegenreaktion zur Vereinzelung an den Monitoren des Alltags. Das Internet mit seiner Illusion der Allverbundenheit lässt uns in Wirklichkeit einsam sein. Daher gewinnt die Suche nach Gemeinschaft, nach einer echten Empfindung der Welt an Aufschwung. So stehen auch die Konzert- und Opernhäuser derzeit relativ solide da, weil sie Publikumszuspruch haben.
niusic: Also bringt uns die Kunstform Film direkter in Kontakt mit der Realität als der zeitsynchrone Informationsstrom des Internets?
Frank Strobel: Im Kino können wir alles erleben, ohne persönlich gefährdet zu werden. Wir streifen frei durch alle Zeiten, Realitäten, Situationen, tauchen ab in Fantasiewelten, in Zukunft und Vergangenheit.
niusic: Dann sehen Sie die Kunstform Kino nicht in Gefahr, etwa angesichts des rasant steigenden Streamings von Filmen und Serien zuhause?
Frank Strobel: Technische Neuerungen hat es immer gegeben, sie verlaufen in Wellenbewegungen, etwa als das Fernsehen seinerzeit durch den Reiz des Neuen die Leute aus dem Kino rausgezogen hat. In den letzten Jahren versuchte sich die Entwicklung der Cineplex-Kinos mit Surroundsound einem Erlebnis anzunähern, das man im Live-Filmkonzert automatisch hat, den allumgebenden Klang. Auch in einem akustisch guten Konzertsaal erleben wir den Klang hörend und zugleich physisch. Das zieht einen unheimlich ins Geschehen.
Noch in der Stummfilmzeit produzierte man die ersten Operettenfilme mit Livemusik, weil die Komponisten im Medium Kino eine Chance sahen. So auch Richard Strauss, der 1926 die Premiere der Filmbearbeitung seines „Rosenkavaliers“ in der Dresdner Semperoper selbst dirigierte.
Und was die Auswirkungen des Streamings angeht, da bin ich hoffnungsvoll. Streaming ist spannend und hat seine Möglichkeiten, es wird eine Ergänzung werden. Live in Kino, Oper, Theater gehen zu können – das hat man schon vor 15 Jahren für tot erklärt. In meinen Augen ein Irrtum, denn die Grundsehnsüchte des Menschen bleiben bestehen: nach einem Gemeinschaftserlebnis, der Einzigartigkeit des Moments und der anderen Wahrnehmung, die das Erleben von Bild und Ton im dunklen Raum mit sich bringt.
Die nominierten Scores 2018 im Überblick
Die diesjährigen Oscar-Verleihungen finden am 4. März im Dolby Theater, Los Angeles, statt, Gastgeber der Show ist wieder Jimmy Kimmel. Sie wird zeitgleich auch bei uns im Fernsehen und ausgewählten Kinos übertragen und ist für zahlreiche Cineasten stets ein willkommener Grund, die Nacht zum Tag zu machen.
© Kai Bienert (Porträt F. Strobel)