Von Carsten Hinrichs, 24.03.2018

Tieftauchen

Ein Hoch auf den Individualitätsdruck, denn Hobbys mit komplexen Inhalten liegen gerade voll im Trend. Kann man demnächst wieder mit Klassik-Wissen auf Partys punkten? Die niusic-Kolumne

Mit dem Kauf eines 350l-Riffaquariums für mehr als 2000 Euro ist es nicht getan, erzählen mir die zwei unterhaltsamen Fachleute über ihrem Bier. Denn was sich im mitgelieferten Unterschrank verbirgt, ist kein Ersatztank für Meerwasser, sondern ein Vier-Kammer-Filteraquarium. Und das heißt: ein veritables Klärwerk im 50l-Zwergformat, das Tag und Nacht im Wohnzimmer seinen Dienst verrichten soll. Eiweißabschäumer, Aktivkohle-Durchlauffilter, Algen-Becken zur Nitratreduktion, Messcomputer zur Stabilisierung der Calcium- und Magnesiumwerte. Anders ist die Pracht eines Korallenriffs mit den sich wogenden Anemonen, Weich- und Steinkorallen nicht zu bekommen, jedenfalls wenn neben Garnelen und Schnecken auch noch Clownfische eingesetzt werden sollen. Aber was soll’s? Wer sich erst einmal für dieses Thema begeistert hat, wird jede Klippe mühelos meistern.

Nicht erst, seit ich beim Prokrastinieren auf die Beiträge von „Meerwasser LiveTV“ bei YouTube stieß, bin ich davon überzeugt: Es besteht derzeit ein richtiger Hunger nach Hobbys mit komplexen Inhalten. Je abgefahrener, umso besser. Aber es geht auch alltäglicher. Jeder hat doch inzwischen in seinem Bekanntenkreis mindestens einen, der von Kaffeeröst- und Mahlgraden, Filterkaffee versus Dampfdruck, oder gar dem neuen Cold Brew faselt. Komplex ist das neue Cool!

Wenn ich mit Kaffee und Krustentieren mein Belohnungszentrum zum Feuern bringen kann, dann wird das mit Kontrabass und Krenek doch genauso gut gehen!

Das müsste doch die Stunde der Klassik-Nerds sein, denn das Interesse für klassische Musik, die Beschäftigung mit Gattungen, Epochen und Werken en detail und en Partitur galt lange als Ladenhüter, jedenfalls gemessen an den CD-Verkäufen. „Beethoven, Bach oder Boulez sind schwierig. Im Kulturbetrieb gilt diese Musik als ‚E‘ wie ernst und anspruchsvoll – und damit fast schon als unzumutbar“, konstatierte Holger Noltze in seinem Buch „Die Leichtigkeitslüge“ und wollte gegen die galoppierende Verflachung künstlerischer Inhalte in der Kulturvermittlung zu Felde ziehen. Wer hat der Klassik diesen Stempel des Unbekömmlich-Vertrackten eigentlich aufgedrückt? Es können doch nur diejenigen gewesen sein, denen es selbst an Neugier und Interesse für ihren Gegenstand (oder besser: ihr Produkt) fehlt. Wenn ich mit Kaffee und Krustentieren mein Belohnungszentrum zum Feuern bringen kann, dann wird das mit Kontrabass und Krenek doch genauso gut gehen! Zumal da seit damals die Vermittlungsangebote rasant zugenommen haben, Orchester wie die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen oder das Ensemble Resonanz ihre Probenräume für Besucher öffnen und „Rhapsody in School“ Musiker als unprätentiöse Klassik-Botschafter ins Klassenzimmer schickt. Sämtliche gesellschaftlichen Hürden beim Einstieg in eine Biografie als Klassik-Hörer und -Genießer sind doch bereits niedergerissen, elitäre Sub-Zirkel der Fact-Dropper wurden dicht gemacht.

Aber es gibt eben doch einen Unterschied zwischen klassischer Musik und vielen anderen, gerade boomenden Interessensgebieten. Der Reiz all dieser Beschäftigungen mit komplexen Themen ist es, dass man schon nach kurzer Zeit des Einlesens zu vorzeigbaren kreativen Eigenleistungen kommt und dann in die lange Phase des Erfahrungsammelns eintritt. Das motiviert! Das perfekte Heißgetränk aus selbst gerösteten Kaffeebohnen, das die Gäste anerkennend staunen lässt. Das Stück Ozean, das wie naturgetreu im Wohnzimmer brandet. Wohl gemerkt: Auch Musik kann man genießen und sich aus bloßer Neugier tief in ihre Zusammenhänge einarbeiten, ganz ohne Notenkenntnis und Instrumentalunterricht. Aber geht es um kreative Eigenleistung, dann steht in den meisten Künsten, und eben auch bei der klassischen Musik, die Durststrecke am Anfang. Man muss viele Jahre Unterricht genommen, Fehlschläge verwunden haben und trotz allem bei der Stange geblieben sein. Das lässt sich nur schwer am Wochenende neben dem Job erlernen, wenn man es nicht von Kindesbeinen an trainiert hat. Die große Zahl der mit ihrem Hobby glücklichen Amateur-Chorsänger, - Orchester- und Kammermusiker in Deutschland kann wortwörtlich ein Lied davon singen. Wer würde gerne ausschließlich über fremden Kaffee fachsimpeln oder die Anemonenanordnung in anderer Leute Aquarium prüfend besprechen? Selbermachen macht Spaß. Bevor man aber auch nur ein Bach-Präludium aufführungsreif in den eigenen vier Wänden abschnurren lassen kann, hat man schneller das Great Barrier Reef nachgebaut.

Gemessen an dem Engagement, das Menschen bis zur Beherrschung ihres Instruments dafür aufbringen, ist das Musizieren vielleicht sogar die Königsklasse unter den Nischenhobbies. Um als Option zur Verfügung zu stehen, wäre ein fundierterer und umfassenderer Musik- und Instrumentalunterricht von klein auf nötig. Ein Unterricht, der in höheren Klassen komplexe Inhalte nicht zu umschiffen versucht, sondern die Schüler ruhig auch mit Partiturlesen, Zwölftontechnik und romantischer Ideengeschichte in Berührung bringt. Komplexität an sich ist eben doch verlockend. Zumindest aber weit weniger abschreckend als das Gefühl, aus mangelnder Bildung vor verschlossenen Türen zu stehen.


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