In Maurice Sendaks Kinderbuch „Wo die wilden Kerle wohnen“ wächst in Max‘ Zimmer ein Wald, der größer und größer wird, bis „die Wände so weit“ sind „wie die ganze Welt“. Ein fantastischer Moment zwischen Traum und Wirklichkeit, in dem Draußen und Drinnen miteinander verschmelzen, der Abenteuer verspricht und absolute Freiheit.
Diese Geschichte aus dem Jahr 1963 war für die Fotokünstlerin Suzanne Moxhay sicherlich eine der Vorlagen für ihre fantastisch-surrealen Bilder – schließlich orientierte sie sich dabei nach eigener Aussage an „Büchern aus der Mitte des 20. Jahrhunderts“. Das Motiv für das Cover der Schubert-Einspielung von Marie-Elisabeth Hecker (Violoncello) und Martin Helmchen (Klavier) zusammen mit der Geigerin Antje Weithaas ist eines der Bilder Moxhays aus dem Jahr 2015: „Thicket“ – „Dickicht“ – nennt sie die Kombination aus Fotografie und Malerei. Der Tannenwald, zugegeben, sieht im Vergleich mit Sendaks Wilde-Kerle-Wald eher aus wie eine Miniatur-Landschaft, und ganz unzivilisiert ist er auch nicht, immerhin gibt es einige kleine Laternen zu sehen, die die Existenz von Miniatur-Menschen ahnen lassen. So viel man beim ersten Hinschauen auch zu erkennen glaubt, und soviel uns Hollywood auch schon gezeigt hat – irritierend ist das Bild trotzdem. Neben den verschobenen Proportionen stimmt nämlich der Lichteinfall mit der Schattenverteilung nicht überein, und außerdem ist nicht klar, welche Teile des Walds zu dem Wandgemälde im Hintergrund gehören und welche nicht. Das Ganze ist sonderbar, eigentümlich verzerrt.
Was hat das mit Schuberts „Arpeggione-Sonate“ und seinem zweiten Klaviertrio zu tun? Die beiden 1824 (Sonate) und 1827 (Trio) entstandenen Stücke fallen in jeweils besondere Schaffensperioden Schuberts: 1824 schreibt er zum ersten Mal, wie von Freunden gefordert, hochvirtuose Vorzeige-Stücke, die in den Salons vor Bewunderern vorgetragen werden konnten – die „Arpeggione-Sonate“ ist so ein Stück, geschrieben für Vinzenz Schuster, der die Arpeggione, ein Misch-Instrument zwischen Gitarre und Cello, besonders gut beherrscht haben muss. Parallel komponierte Schubert das d-Moll-Streichquartett „Der Tod und das Mädchen“, und 1827 arbeitete er an seiner „Winterreise“, dem aus heutiger Sicht wohl existenziellsten und düstersten Liederzyklus dieser Zeit.
Beide Stücke auf der CD sind sozusagen Hand in Hand mit zweien seiner erschütterndsten Kompositionen entstanden. Die Musik geht vor allem aus einem Grund so nahe: Sowohl in „Der Tod und das Mädchen“ als auch in der „Winterreise“ stellt Schubert harmonisch zwei Welten einander gegenüber, das unwirkliche Idyll (in Dur) und die schwer zu ertragende, düstere, bedrohliche Realität (Moll). In den einzelnen Strophen des Lieds „Gute Nacht“ sind es immer die Erinnerungen an die Geliebte, die den Sprecher innerlich (in die parallele Dur-Tonart) entrücken lassen, bis er in der letzten Strophe endgültig den Bezug zur Realität zu verlieren scheint (und statt in d-Moll nun in D-Dur singt):
Auch wenn es in der „Arpeggione-Sonate“ und im zweiten Klaviertrio keinen Text wie in der „Winterreise“ oder ein Programm wie in „Der Tod und das Mädchen“ gibt, so finden sich doch auch in diesen Werken die schuberthaft einander harmonisch gegenüber gestellten gegensätzlichen Welten. Über den zweiten Satz des Klaviertrios schrieb Robert Schumann, er käme einem „Seufzer“ gleich, „der sich bis zur Herzensangst steigern möchte". Tatsächlich ist in diesem Satz mit seinen eiskalt und hohl klingenden wiederholten Staccato-Akkorden und dem elegisch-liedhaften Cello-Thema die Nähe zur „Winterreise“ hörbar:
Bei Schubert ist wie bei keinem Anderen in vielen Werken das Tongeschlecht Dur mehr negativ als positiv konnotiert, derart, dass der Wechsel von Moll nach Dur (wie bei den „Erlkönig“-Passagen im gleichnamigen Lied) Schaudern auslösen kann. In seiner Musik lässt Schubert beide einander so fern wirkende Welten in einem großen Kontext erscheinen – wie Suzanne Moxhay es auch in ihrem „Thicket“, wie es Maurice Sendak in „Wo die wilden Kerle leben“ tun: die düstere, unbequeme oder auch nostalgisch ersehnte Realität, ein zerfallenes altes Haus mit Dielenboden und hohen Decken oder ein als Gefängnis empfundenes Kinderzimmer, in dem auf unwirkliche Weise ein kleiner oder großer Wald wächst, der wirkt wie ein mystisch aus sich heraus leuchtendes Tor zu einer anderen Welt.
Das Cover beeinflusst die Hörhaltung. Ob man das als Rezipient mag oder nicht, sei dahingestellt. Martin Helmchen und die „wilden Kerlinnen“ Antje Weithaas und Marie-Elisabeth Hecker begeben sich mit der Einspielung dieser Musik in einen Raum wie den dort gezeigten. Es klingt vor dem Cover-Hintergrund sehnsüchtig und furchtsam, neugierig und scheu, vorsichtig und mutig, wie sich entweder Hecker und Helmchen in der „Arpeggione-Sonate“, Heckers Lieblingsstück (wie sie im Booklet schreibt), oder gemeinsam mit Antje Weithaas im Trio durch die Schubert’schen liedhaften Erzähl-Welten tasten. Das Cover liefert einen zwar nicht revolutionär neuen, doch einen passenden Höransatz für einen Teil der eingespielten Werke, ist daneben aber ein eigenes Kunstwerk, das auch für sich stehen kann. Tatsächlich kann man sich beim Hören der Musik unbemerkt in dem faszinierenden Bild der Fotokünstlerin verlieren – und hat damit vielleicht selbst schon einen Schritt in eine andere Welt getan.
© Suzanne Moxhay/todayinart.com