Von Anna Vogt, 02.11.2017

Back To The Basics

Gerade feierte „Satyagraha“ von Philip Glass an der Komischen Oper in Berlin Premiere. Sind 3 ¼ Stunden Minimal Music über das Leben von Mahatma Gandhi nun ein musikalisches Schlafmittel oder eher ein Energy-Drink? Der niusic-Selbsttest.

Wenn eine Oper von 1980 für fünf nahezu ausverkaufte Vorstellungen sorgt und beim Schlussapplaus zu Standing Ovations führt, dann scheint sie irgendetwas in den Menschen zu bewegen. An der Komischen Oper Berlin feierte gerade Philip Glass´ „Satyagraha“ Premiere – eine Oper über das Leben und Wirken von Mahatma Gandhi. Vielleicht ist es das Thema, vielleicht ist es der Name Philip Glass, der die Leute massenhaft ins Opernhaus lockt, schließlich ist der amerikanische Komponist als Vertreter der so genannten „Minimal Music“ auch eine Berühmtheit im Bereich der Filmmusik, hat u.a. suggestive Scores zu „The Hours“ und „Kundun“ geschrieben. Außerdem aber – und das wissen die wenigsten – auch 25 Opern!

Philip Glass

Sein Markenzeichen: Er arbeitet konsequent mit musikalischen Pattern, die sich immer und immer wiederholen, sich langsam verschieben und verändern. Die Wirkung: gleichmäßig pulsierende Energie, tranceartige Zustände, ein Gefühl der Zeitlosigkeit und Orientierungslosigkeit. Man wird mit dieser Musik zurückgeworfen auf sich selbst und sein Musik-Erleben, im besten Fall kann man sich fallen lassen, gibt sich dem musikalischen Sog hin, erkennt wieder die Schönheit der „Basics“ in der Musik. Aber „funktioniert“ das auch für 3 ¼ Stunden? So lange dauert „Satyagraha“, die erste Minimal Music-Oper, die ich miterlebe. Eigentlich überschreitet die Spieldauer damit meine persönliche Schmerzgrenze, doch das gängige Zeitempfinden, so meine erste Erkenntnis bald nach Vorstellungsbeginn, spielt hier ohnehin keine Rolle.

„Satyagraha“: eine Friedensoper in drei Akten

Was man von einer Oper erwartet: Handlung, einen Spannungsbogen, große Gefühle, sich verändernde Charaktere, Abwechslung. Philip Glass´ „Satyagraha“ gibt einem genau das Gegenteil: statische, unnahbare Charaktere, einzelne, scheinbar willkürliche zusammengewürfelte Szenen, lange musikalische Abschnitte ohne wirkliche Entwicklung. Der Klang von „Satyagraha“ wird vor allem durch die tiefen Streicher und die Holzbläser bestimmt, und stellenweise durch eine grandios surreal klingende elektronische Orgel. Zweite Erkenntnis des Abends: Minimal Music ist alles andere als einfach zu spielen. Ein einzelnes Pattern mag zwar technisch nicht sonderlich herausfordernd sein, aber wenn es 100 Mal gespielt wird und sich zwischendrin immer ein bisschen verändert, braucht das eine unglaubliche Präzision und Konzentration. Dirigent Jonathan Stockhammer und den Musikern der Komischen Oper gelingt dieser Musik-Marathon erstaunlich gut.

Gleichmäßig pulsierende Energie, tranceartige Zustände

Die konzentrierte Gleichförmigkeit der Musik überträgt sich auf den Raum, die Atmosphäre, das Publikum. Dritte Erkenntnis: Statt vorrangig um die Handlung geht es hier – so abstrakt das klingen mag – um wechselnde und sich verändernde Energiefelder, die auch eine Resonanz in mir selbst erzeugen. Ich brauche eine ganze Weile, mich darauf einzulassen, meine Erwartung an Abwechslung und Entwicklung herunterzuschrauben und das Hier und Jetzt der einzelnen Pattern auszuhalten und dann auch zu genießen. Manch anderen gelingt das nicht: Mein älterer Sitznachbar kramt immer wieder nervös nach seinem Handy, die ersten gehen in der Pause.

Vierte Erkenntnis des Abends: Die Stimmen transportieren hier eigentlich keine Handlung, sondern sind wichtiger Teil der musikalischen Architektur, verschmelzen mit dem Orchester. Das Sanskrit, in dem gesungen wird, klingt angenehm fremd und unterstreicht den mystischen Eindruck, der immer mehr entsteht: Es ist eine unbekannte Welt, die hier für ein paar Stunden erwacht. Die oft tiefen Lagen (darüber aber auch der warme Tenor von Gandhi-Sänger Stefan Cifolelli) und die lang ausgehaltenen Akkorde schwingen in einem selbst mit.

Aber was macht man auf der Bühne mit so einer Oper, die aus pulsierenden Flächen zu bestehen scheint und kaum Handlung hat? Für die Produktion der Komischen Oper (einer Koproduktion mit dem Theater Basel und der Opera Vlaanderen) hat der flämisch-marokkanische Choreograf Sidi Larbi Cherakoui mit den Tänzern aus seiner Eastman Company die Musik in Bewegung übersetzt, in einem sehr reduzierten Bühnenbild. Das ist naheliegend, denn die eigentliche Geschichte und die Dramatik der Handlung (etwa die Aggressionen gegen Ghandi oder der Protestmarsch) können so auf abstrakte, aber sinnliche Art zumindest angedeutet werden und sich zugleich dem Zeitmodus der Musik anpassen. Das verstärkt die Energien der Musik, gibt dem Auge Nahrung, ohne aber die Konzentration des Abends zu durchbrechen. Die auf den Boden krachenden Körper der Tänzer, ihre schleifenden oder exzessiven Bewegungen fügen sich so als visuelle, aber eben auch akustische Ebene in die Gleichförmigkeit der Pattern.



Überhaupt merke ich – fünfte Erkenntnis! – mehr und mehr, dass Minimal Music alles andere als „immer gleich“ ist: Hat man sich einmal eingegroovt auf die Einfachheit der Figuren, ihre oft simple Struktur aus gebrochenen Dreiklängen, Tonleitern oder chromatischen Rückungen, erwartet der Körper unbewusst jede schon bekannte Veränderung im Pattern, spürt die Auflösungen von dissonanten Akkorden zu konsonanten wieder als wirkliche Erleichterung. Und nach der hundertsten Wiederholung einer Phrase ist man enttäuscht, wenn sie tatsächlich vorbei ist, erwartet aber mit umso größerer Spannung, was nun kommt. Die Kunst, mit Minimal Music einen Bogen über 3 ¼ Stunden zu spannen, liegt so natürlich in der Dramaturgie der Komposition, die Vertrautes und Neues, Gleichklang und Kontrast in einem der regulären Zeit vollkommen entkoppelten System geschickt kombinieren muss. Das kann funktionieren, wie an diesem Abend in der Komischen Oper, an dem alle Rädchen perfekt zusammenspielen und sich die Konzentration aus dem Orchestergraben und von der Bühne auf ein Publikum überträgt. Das kann aber sicherlich auch fürchterlich schief gehen, wenn Orchester oder Inszenierung holpern, aber auch bei jedem Zuschauer einzeln. Bester Indikator dafür: wenn man während der Aufführung anfängt, Spiegel Online auf dem Smartphone zu lesen, wie mein Sitznachbar.

© Monika Rittershaus
© Jack Mitchell/flickr.com


    NIUSletter

    Bleibt auf dem Laufenden und erhaltet alle drei Wochen unseren NIUSletter.