Effizientes Handeln ist unpersönlich, sehr zielorientiert. Barbara Hannigan jedoch durchschrahlt es mit Humanismus. Sie wirbelt durch das Tischgewirr im Café der Jahrhunderthalle Bochum, führt en passent zwei Gespräche – kurz, konzentriert und maximal zugewandt – in denen sie die Opernprobe, aus der sie gerade kommt, evaluiert und vorschlägt, wie die entstandenen Probleme geknackt werden. Damit sind sie gelöst. Blitzschnell. Mal so zwischendurch. Die letzten paar Meter zu meinem Tisch hätte sie auch blind absolvieren können, slalomartig scheint sie durch den Tischparkour zu schweben und bestellt beim fünf Meter entfernten Kellner – kurz, konzentriert und maximal zugewandt – einen Tee.
„Barbara, nice to meet you." Hell, strahlend und offen klingt das. Sie meint das ernst. Damit hat sie den Termin zwischendurch zu etwas Besonderem erhoben. Diese Natürlichkeit der Perfektion jagt mir Angst ein. Es kostet Mühe, sich von der hanniganschen Arbeitsweise nicht um den Finger wickeln zu lassen.
niusic: Warum machen Sie Musik?
Barbara Hannigan: Bitte präzisieren Sie die Frage ...
niusic: Sie haben in der Szene der klassischen Musik den Ruf, dass Sie bedingungslos kämpfen und so hart arbeiten, dass es manchen gruselt. Woher kommt dieser Drang, der ins Extreme abdriftet?
Hannigan: Aha. Also nicht, warum ich Musik mache, sondern, warum ich Musik mache, so wie ich sie mache. Die Gedanken zu meiner neuen CD beantworten das: Ich sehe im Orchester das Kindliche, will möglichst ursprünglich in diesem Projekt spielen. So, wie es Kindern angeboren ist.
niusic: Ich verstehe nicht, was das Kindliche mit Ihrem Schaffensdrang zu tun hat.
Hannigan: Ich habe noch immer diesen kindlichen Drang. Dieser Trieb ist beinahe mysteriös. Es ist scheinbar eine Macht, die Kinder veranlasst, zu springen, zu springen und immer weiter zu springen. Der Abstand zum Boden ist – im Gegensatz zu den meisten Erwachsenen – bei Kindern gering. Die Verletzung ist klein, wenn man fällt. Deshalb stehen Kinder blitzartig wieder auf. Erwachsene zweifeln länger, warum sie gefallen sind.
niusic: Aber Barbara Hannigan fällt sowieso nicht ...
Hannigan: Sicher doch. Aber: Ich falle anders als die meisten Erwachsenen. Das habe ich erst vor ein paar Jahren verstanden. Es war in der Zusammenarbeit mit der Tanzlegende Sasha Waltz, die die Opern „Matsukaze“ von Toshio Hosokawa und „Passion“ von Pascal Dusapin choreografiert hat. Wir haben enorm viel improvisiert. Waltz und ihre Compagnie hat den Prozess des „Fallens“ bewusst mit einbezogen. Jeder Fall war Teil der Kunst und hat damit etwas Neues entstehen lassen.
niusic: Würden wir jetzt einen x-beliebigen Menschen auf der Straße fragen, ob er gerne fällt, würde er höchstwahrscheinlich verneinen. Warum wollen Sie „fallen“?
Hannigan: Weil auch Scheitern existenziell zum Erfolg gehört.
niusic: Entspannung ist Ihnen fremd?
Hannigan: (lacht) In meinen zwei freien Tagen in der aktuellen Opernproduktion habe ich mich in den Zug gesetzt und meine Lehrerin aus New York besucht, die zufällig gerade hier ums Eck kurzzeitig in Deutschland unterrichtet. Das waren herrliche freie Tage, weil ich drei Gesangsstunden in achtundvierzig Stunden nehmen konnte.
niusic: Das klingt krankhaft ...
Hannigan: Wissenschaftliche Studien beweisen, dass das Singen chemische Reaktionen auslöst. Und die erzeugten Stoffe sind nicht nur Endorphine. Singen ist ganz klar eine Sucht.
niusic: Sind Drogen gesund?
Hannigan: Es ist nebensächlich, ob es gesund oder ungesund ist. Wenn ich für eine gewisse Zeit nicht mehr singen darf, weil ich krank bin, dann bekomme ich eine Depression.
niusic: Damit wird die Bühne zur Psychotherapie.
Hannigan: Nein. Sie wird lediglich der Ort der Leidenschaft. Manche Leute werden Workaholics wegen des Geldes. (lacht) Das macht in der klassischen Musik niemand.
niusic: Ich bin nicht sicher, ob Workaholics wegen des Geldes arbeiten.
Hannigan: Sie sind getrieben vom Erfolg. Ich hingegen bin keine zielorientierte Person. Ich bin prozessorientiert. Wenn ich Meisterkurse gebe, dann geht es mir immer gegen den Strich, wenn wir am Ende noch ein Konzert geben müssen. Eigentlich unnötig. Die Bühnensituation ist nur ein Ausschnitt. Ein winziger Ausschnitt. Das Aufwärmen ist wichtiger als ein Konzert.
niusic: Es gibt dieses Video, wo Sie sehr nah beim Aufwärmprozess gefilmt werden. Wie Ihre neue DVD ist auch dieser Kurzfilm vom Regisseur Mathieu Amalric ...
Hannigan: Ich habe zu Mathieu gesagt, dass ich keine Zeit habe, irgendetwas nach Drehbuch zu machen. Dieses kurze Video ist meine Realität, mein Alltag.
niusic: Beim neuen Projekt „Crazy Girl Crazy“ steht die Figur Lulu im absoluten Zentrum. Sie umklammern die „Sinfonischen Stücke aus der Oper Lulu“, die Alban Berg an sein Bühnenwerk anlehnt und sie damals wie einen Trailer für seine Oper verwendet hat, mit Luciano Berios „Sequenza lll für Frauenstimme“ und George Gershwins „Girl Crazy Suite“. Der Zusammenhang zwischen Gershwin und Berg erklärt sich leicht – beide haben sich gekannt, zeitgleich an diesen Werken komponiert, es handelt sich um theatrale Stücke über eine Frau. Warum Berio?
Hannigan: Es ist einfach. Die „Sequenza“ ist ebenfalls Lulu. Der Text ist von Markus Kutter, der für mich die Gedanken der jungen Lulu auf den Punkt bringt.
Hannigan: Das Mädchen hat kein zu Hause, sie sucht danach wahnhaft. Dabei versteht sie nicht, dass ihr Zuhause in ihr ist. Ihre Suche nimmt bizarre Züge an – sie ist hysterisch, sie lacht, sie schnappt regelrecht über. Sie wechselt Charaktere permanent, sie stülpt sich eine Maske nach der anderen über. Und das ist exakt die „Sequenza“ von Berio.
niusic: Im Programmbuch steht, dass „das Blut von Lulu durch alle drei Werke fließt“. Woher kommt Ihr Lulu-Wahn?
Hannigan: Lulu ist die zentrale Figur in meinem Leben. Sie wird verkannt als „femme fatale“ aber sie ist vielmehr frei. Als ich das erste Mal Lulu gesungen habe, hat sich alles verändert, meine Auffassungen von Darstellung, Liebe und Tod. Und da musste ich einfach anfangen zu dirigieren.
Barbara Hannigan
niusic: Die „Sequenza“ von Berio ist radikal. Ich habe das Gefühl, dass Berio versucht hat, in jeder „Sequenza“, die er ja für viele Instrumente geschrieben hat, das Maximum aus jedem zu holen. Es musste vor allem neu sein und das zeigen, was die Musikgeschichte bei den jeweiligen Instrumenten noch nicht abgedeckt hat. Ist das nicht plump und ignorant? Hauptsache neu?
Hannigan: Dem ist nicht so. Berio kommt von der Tradition des italienischen Belcanto 29 und er verbindet hier verschiedene Stile der Vergangenheit miteinander. Die großen Meister des zwanzigsten Jahrhunderts – Berg, Ligeti, Boulez – wollten nicht demontieren. Sie wollten den Schleier der Vergangenheit nicht zerfetzen, im Gegenteil, sie huldigen dem Schleier. Die „Sequenza“ ist, so wie die Stücke von Gershwin und Berg, ein Theaterstück.
niusic: Sie haben ja aber „nur“ den sinfonischen Trailer von Berg aufgenommen, nicht die Oper ...
Hannigan: Lulu hat auch in der Oper keine Arie, sie hat „ein Lied“. Aber – und da gehe ich noch einen Schritt weiter – Lulu ist weniger eine Oper im engen Sinn. Es ist Theater. Denn für Lulu ist das Spiel alles. Lulu kommt vom Varieté-Theater. Sie will eigentlich tanzen, und so wird sie Teil ihres eigenen Schauspiels.
niusic: Bevor Sie antworten, stellen Sie meistens Gegenfragen, korrigieren mich und scheinen nur darauf zu warten, dass ich Sie unterfordere. Wie wichtig ist Kontrolle für Sie?
Hannigan: (denkt lange nach) Kontrolle ist das falsche Wort. Für mich ist der Prozess des Formens sehr wichtig. Ich modelliere und dadurch bestimme ich sicherlich auch häufig. Deshalb bin ich begabt, wenn es darum geht mit Komponisten zusammenzuarbeiten. Ich bin eine sehr gute Herausgeberin für ihre Werke.
niusic: Wenn man gerne bestimmt, hat man unter Umständen Angst, dass jemand etwas falsch macht.
Hannigan: (lacht) Ich bemerke Ängste sehr schnell und überwältige sie. Ich fühle mich zu riskanten Projekten hingezogen. Mein Mantra: überwinden, überwinden, überwinden.
Wenn Norma schönste Gesangslinien flötet, obwohl ihr eigentlich vor Schmerz die Stimme brechen müsste - dann ist das Belcanto. Eine ganze Opernepoche in der eines am wichtigsten ist. Kunstvoller Gesang. Bekannteste Vertreter: Rossini, Bellini und Donizetti. (MH) ↩
niusic: Verzeihen Sie die folgende Frage ...
Hannigan: Bitte jetzt nicht die Frauendirigentenfrage ...
niusic: Was?
Hannigan: Das fragt jeder. Ich kann es nicht mehr hören.
niusic: Das wollte ich gar nicht wissen: Wie wäre das erste und letzte Kapitel Ihrer Autobiografie?
Hannigan: Ich würde keine schreiben. Dann müsste ich Wörter und Begriffe über Dinge stülpen, die ich viel besser in Musik ausdrücken kann. Das Schreiben würde mir meine Geheimnisse nehmen, die ich mir selbst gar nicht erklären will. Manche Dinge sollten auch mir über mich unerklärlich bleiben.
niusic: Ist das vielleicht eine Antwort auf meine allererste Frage: Warum machen Sie Musik? Was ist der Motor?
Hannigan: Jeder Musiker würde sagen, dass Musik sein Medium ist. Ich habe da keine ausgefallene Antwort.
niusic: Das sagen viele. Das ist etwas oberflächlich. Wenn man weiter fragt, hört man häufig, dass es eine Art „seelischer Exhibitionismus“ sei. Manche sprechen von Egozentrik ...
Hannigan: Das ist es bei mir nicht. Ich bin in einer sehr kleinen Gemeinde aufgewachsen, sehr behütet. Und da dient man seiner Community. Wie in der Kirche. Man dient. Jeder hat seinen Platz und jeder nutzt seine Talente. Und das mache ich noch heute: Dienen. So kann ich zum Beispiel Komponisten helfen, dass sie Zugang zu ihren Fähigkeiten bekommen.
niusic: Wie hilft Ihre CD den Hörern?
Hannigan: Die CD ist kein Hilfsprojekt. Wenn ich über Hilfe spreche, meine ich das in einer weiteren Perspektive. Der Grund war die Liebe zu Lulu und schließlich die Verbindung der anderen Komponisten damit. Ich will sagen: Hey. Das ist geile Musik des zwanzigsten Jahrhunderts, die du vielleicht nicht gehört hättest. Und Berio an den Anfang zu stellen, das ist sicherlich riskant. Das Label war anfangs nicht begeistert. Aber ganz ehrlich – wenn jemand während des Hörens abbricht: Who cares. Er verpasst etwas.
niusic: Sie arbeiten viel mit dem Repertoire des zwanzigsten Jahrhunderts. Um das kommerziell zu machen, müssen Sie sicher viel mit Programmmachern streiten?
Hannigan: Kommerziell? Kommen Sie. Das meinen Sie nicht ernsthaft ...
niusic: Ich glaube, dass man bei Ihnen durchaus von einem kommerziellen Erfolg sprechen kann.
Hannigan: Berio und Berg sind nicht wirklich massentauglich. Aber ja – ich bin froh, dass ich auch Zwanzigstes-Jahrhundert-Programme in großen Konzerthäusern machen kann.
niusic: Warum ist die Szene der klassischen Musik so ängstlich und macht häufig eher altes Programm – weil angeblich das Publikum ausbleibt?
Hannigan: Ich habe keine Ahnung. Ich arbeite mit solchen Leuten nicht.
niusic: Ignoranz ist natürlich auch eine Lösung ...
Hannigan: (lacht) Es wäre ignorant der Musik gegenüber, wenn ich mich mit solchen Diskussionen aufhalten würde.
niusic: Also suchen Sie sich nur Weggefährten, die die Leidenschaft bedingungslos teilen?
Hannigan: Es ist ein Weg. Und falls ich wirklich „kommerziell erfolgreich“ bin, dann kann ich nur sagen, dass mich das sehr glücklich macht. Das hätte ich nie gedacht.