Von Robert Colonius, 03.10.2017

Jede Stimme zählt

Ein Orchester als Unternehmen? Das klingt erst einmal unmusikalisch, nach Kommerz. Doch nur so kann sich die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen bis heute mit größtem Erfolg behaupten und das bewahren, was ihr stets wichtig war – ihre Unabhängigkeit.

Am Bremer Hauptbahnhof kann einem schon etwas mulmig werden. Die Anzahl der Jogginghosen und Glitzerschuhe ist hoch, Bettler und Obdachlose tummeln sich dort. Es herrscht „Bahnhofsstimmung“, im negativen Sinne. Bremen hat einen schlechten Ruf. Das ist nicht ganz unbegründet: Auf bundesweiten Rankings über Bildung, Arbeit oder Sicherheit findet es sich mit den anderen Stadtstaaten Berlin und Hamburg fast immer ganz hinten. Und ausgerechnet in dem als Problemviertel geltenden Stadtteil Osterholz-Tenever hat sich ein Orchester niedergelassen, das zu den ganz großen weltweit gezählt wird: die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen. In einem Saal der Gesamtschule Bremen-Ost wird seit nunmehr zehn Jahren regelmäßig geprobt und gelegentlich aufgenommen. Prallen da nicht Welten aufeinander?

Grundsanierung

„Wir konnten da nicht einfach so hingehen. Bremens ärmster Stadtteil: 30 % Hartz-IV-Empfänger, 90 Nationalitäten. Wenn man da als Inbegriff des klassischen Bildungsbürgertums hingeht, muss man nicht damit rechnen, dass die Leute reihenweise dahin strömen. Wir mussten erst einmal lernen“, erzählt Albert Schmitt, Geschäftsführer der Kammerphilharmonie.
Davor war viel passiert. Nachdem sich die Kammerphilharmonie schon längst ihren Ruf erspielt hatte, haperte es noch mit den Probebedingungen. Die Gesamtschule Bremen-Ost (GSO) sollte grundsaniert werden. „Man erkannte hier die Chance, nicht nur neu zu bauen, sondern sich auch neu zu erfinden“, so Schmitt. So wurde der ehemalige Saal der Stadtbibliothek (innerhalb der GSO) renoviert und orchestertauglich gestaltet, samt Lagerräumen und Mikrofonen.

„Hier muss ich nicht den Maestro spielen.“

Paavo Järvi

Ankunft in der GSO. Das Gelände, das Gebäude, der Saal mit dem riesigen roten Banner der Kammerphilharmonie – wie aus dem Ei gepellt. Es steht eine Probe mit Erkki-Sven Tüürs „Flamma“ für Streicher an, am Dirigentenpult: Paavo Järvi als Maestro. Oder welche Rolle nimmt er ein? „Hier muss ich gar nicht den Maestro spielen. Wir können experimentieren und auch feststellen, was nicht funktioniert. Das ist befreiend“, sagt Järvi. Das ist sofort in der Probe zu spüren, die ein wenig anders verläuft, als man es von Orchestern gewohnt ist. Aus allen Ecken kommen Vorschläge, wie man diese oder jene Stelle spielen könnte. Tanja Tetzlaff (Cello) sind die Sechzehntel zu mechanisch: „Ein bisschen rubato sollte da schon erlaubt sein, wir sind doch klassische Musiker“. Für Järvi entstammt die Musik seines estnischen Landmanns Tüür dem „Art-Rock“. Es muss schon „tight“ sein. Ob er dann hier und da vielleicht seinen Schlag unterteilen könnte, wird er gebeten. Gut, dann macht er das eben, und es klappt.

Demokratische Proben

„Unsere Lieblingsthemen: Demokratie und Hierarchie“, sagt Beate Weis, langjährige Violinistin der Kammerphilharmonie. „In den Proben ist es mehr demokratisch, im Konzert nicht. Järvi als Chefdirigent weiß die demokratischen Anteile zu nutzen.“ Dirigenten würden damit ganz unterschiedlich umgehen. Sind neue dadurch manchmal auch eingeschüchtert? „Das kann passieren. Unangenehm wird es, wenn wir einen kennenlernen wollen und schnell merken, dass da nicht viel kommt. Dann nehmen die Beiträge von allen Ecken überhand, und es kippt. Die Proportionen müssen stimmen, sonst nimmt man den da vorne nicht mehr ernst und arbeitet an ihm vorbei“, so Ulrich König, Oboist bei der Kammerphilharmonie.
Demokratisch geht es auch in der sonstigen Organisation zu, wenn zum Beispiel über kostspielige Tourneen abgestimmt werden muss. Für bestimmte Aufgaben gibt es kleinere Gremien. Matthew Hunt, Klarinette, ist im Programmausschuss: „Nächstes Jahr spielen wir Schubert. Darüber haben wir eine Klausur gemacht, Aufnahmen angehört, ausprobiert. Bei der Klausur selbst wird nichts beschlossen, wir öffnen nur unsere Augen und Ohren.“
Juliane Bruckmann spielt seit eineinhalb Jahren Kontrabass bei der Bremer Kammerphilharmonie, seit Juli als festes Mitglied. „Erstaunt war ich über die Meinungen, die in den Sitzungen immer noch weit auseinander gehen. Da gibt es keine festgefahrenen Gruppen. Als Neuling wird man sofort ernst genommen und nach der eigenen Meinung gefragt.“

Albert Schmitt

Nicht verbraten werden

Schon zu Anfang, 1980 noch als reines Studenten-Streichorchester gegründet, war allen bereits klar, worum es gehen sollte: um das Proben und vor allem Musizieren auf gleichberechtigte, demokratische Art. Friederike Latzko, Bratschistin und Gründungsmitglied, erinnert sich: „Der Plan war, dass wir unsere Freiheit bewahren. Wir wollten uns absetzen von den staatlichen oder städtischen Orchestern, die von oben etwas vorgesetzt bekommen.“ Die weitgehende Unabhängigkeit von staatlichen Subventionen (statt 90 % nur etwa 30 % Zuschuss) geht allerdings auch mit einem allgegenwärtigen Risiko einher. So steckte die Kammerphilharmonie Ende der 90er in einer Schuldenkrise. Bei aller künstlerischen Leistung wurde zu wenig Wert auf Profit gelegt. Häufige Wechsel in der Geschäftsführung folgten. Schmitt, der bis dahin Kontrabass in der Kammerphilharmonie gespielt hatte, sah sich gezwungen, die Sache selbst in die Hand zu nehmen: „Bei meiner Übernahme 2002 waren es 750.000 Euro Verschuldung. Wir waren eine GbR (Gesellschaft bürgerlichen Rechts), jeder haftete gesamtschuldnerisch. Aus Verzweiflung sagte ich mir, dass ich das zumindest nicht schlechter machen kann,“ sagt Schmitt und lacht dabei. „Aber dafür hatte ich Insiderwissen.“

Ein Orchester als Unternehmen, bis dahin aber ohne PR, Marketing oder Fundraising – da musste erst einmal ein Image her, um Partner zu akquirieren. „Der strittigste Punkt war die Einstellung eines Marketing-Organisators, weil dafür wieder Geld ausgegeben werden musste“, erzählt Schmitt. Bei einem Businessplan seien die Mechanismen im Grunde immer gleich. „Das ist, wenn man aus dem Orchester kommt, unbefriedigend, weil man möchte, dass das ‚Produkt’ in seiner Sensibilität und Einzigartigkeit vorkommt und nicht in standardisierten Prozessen verbraten wird“, so Schmitt. Schrittweise wurde die Bremer Kammerphilharmonie zu einem Hochleistungsteam mit Geschäftssinn – die Schulden wurden dadurch getilgt. Die Mitglieder sind nach wie vor Teilhaber des Ganzen. Eine detaillierte Beschreibung zur Vorgehensweise Schmitts gibt es hier.

Paavo Järvi bei einer Probe.

Guten Abend, gute Nacht

Öffentliche Generalprobe für die „Night Of The Proms“ in zwei Tagen. Der Probensaal ist sehr voll. Darunter auch der ein oder andere Schüler, dabei sind noch Sommerferien. Järvi will lieber noch einmal ins Detail gehen, keine Show machen. So lässt er nach „Flamma“ und der opernhaften und witzigen Darbietung von Wolfgang Amadeus Mozarts „Sinfonia concertante“ mit Vilde Frang (Violine) und Lawrence Power (Viola) den letzten Satz wiederholen. Das Tempo ist ihm zu gemächlich. Noch einmal. Mehr piano am Anfang. Zu dieser Note hin spielen. Hier abphrasieren. Järvi nimmt nun doch die Zügel in die Hand.
Nach der Pause folgt Brahms’ zweite Sinfonie. „Lasst uns mit dem Finale anfangen. Warum nicht?“, verkündet Järvi und setzt an. Hier scheint alles zu stimmen und Järvi ist am Ende zufrieden. Großer Applaus. Jetzt der Kopfsatz mit seinem „Guten Abend, gute Nacht“-Seitenthema, passend zur Tageszeit. Järvi bricht kurz danach ab. Es genügt ihm als Probe. Musiker und Publikum haben gearbeitet.

„Für manche Leute sind unsere Projekte existenziell geworden.“

Albert Schmitt

Wenn keine Schulferien sind, ist die Bremer Kammerphilharmonie in der GSO von vielen Schülern umgeben. Für Außenstehende mag dies nach wie vor sensationellen Charakter haben, doch darauf legt es das Orchester nicht an: „Das Unspektakuläre ist gefragt, nicht Glamour. Die Kinder brauchen keine Musik, sondern Verlässlichkeit. Das Angebot muss bestehen bleiben, man darf es nicht wegnehmen“, sagt Schmitt.
Mit dem Einzug in die GSO hat sich die Kammerphilharmonie zur Aufgabe gemacht, einen positiven Einfluss auf das gesamte Stadtviertel zu nehmen, zum Beispiel durch das „Zukunftslabor“, in dem an Schulen mit Kindern und Jugendlichen eine „Stadtteil-Oper“ erschaffen wird. Die Musik soll einen ganz konkreten Mehrwert haben. „Wir geben Inspiration, das Leben in die Hand zu nehmen, sich zu engagieren, Verantwortung zu übernehmen“, so Schmitt. Als Ausgangspunkt sei ein Netzwerk aus Lehrern, Eltern und auch Polizei nötig gewesen. „Das Viertel ist ja ein Hotspot. Wenn man aber von dort aus agiert, kann die Musik mit ihrer nonverbalen, emotionalen Qualität berühren“, sagt Schmitt. „Für manche Leute sind unsere Projekte existenziell geworden. Ein Sehnsuchtsort.“

Nicht im stillen Kämmerlein

Ursprünglich als Musikstudentenorchester 1980 gegründet, konnte sich die Deutsche Kammerphilharmonie Bremen musikalisch schnell profilieren, während sie sich größtenteils selbst finanzierte. Nach überstandener Schuldenkrise und der erfolgreichen Unternehmensgründung spielt das Orchester heute mit allen Größen und auf allen Bühnen der Szene. Die Einspielung der Sinfonien Beethovens unter Paavo Järvi ist hochgelobt und preisgekrönt. Im Oktober folgt eine Aufnahme mit Werken von Brahms. Mehr Information unter www.kammerphilharmonie.com.

© Julia Baier, Frank Thomas Koch, Marcus Meyer


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