Ja! Und eigentlich ist das auch genau das Prinzip, das die „Junge Norddeutsche Philharmonie“ an diesem Tag verfolgt. Klassik neben Elektro, U-Musik und E-Musik zehren wechselseitig voneinander. In der Pause und nach ihrem Konzert mit Werken von Wolfgang Amadeus Mozart und Gustav Mahler im Funkhaus kann man die Treppen des imposanten Baus hinunterschlendern und elektronischen Klängen lauschen, dazu tanzen. So hat es das Team der „Jungen Norddeutschen“ organisiert, die Musiker haben ihre eigenen DJs mitgebracht, und es gibt genaue Pläne, wann wer spielt. Die Party des Berghains war da nicht vorgesehen, was schade ist, hätte man dorthin Verbindungen geschlagen, wäre man noch mehr ans echte Leben rangekommen. Vielleicht wären ein paar Zappelnde zufällig in Mozart gelaufen und hätten auf ihrem Trip etwas entdeckt, was sie noch nicht kennen. Dafür hätten die beiden Welten nur besser miteinander kommunizieren müssen.
Solche Projekte, wie das der „Jungen Norddeutschen“, sind nicht neu, und manch klassischen Konzertbesucher macht dieser Trend verrückt, weil es vielen langsam zu bunt wird. Überall gibt es Klassik im Club, auf einem alten Güterbahnhof oder in sonst irgendeiner Location, die noch nicht erschlossen wurde und die Musik einem breiteren Publikum öffnen soll. Aber: Wo ist die gute alte Konzerttradition hin? Ein Gespräch mit dem Dirigenten Jonathan Stockhammer.
niusic: Das, was ihr hier macht, riecht nach kommerziellem Ausverkauf der klassischen Musik ...
Jonathan Stockhammer: Das kann ich verstehen. Ist es aber nicht. Das Funkhaus in Berlin hier ist natürlich cool ...
niusic: Ziemlich verhipstert, Berlin-like ...
Stockhammer: Klar. Ich bin auch ziemlich allergisch gegenüber diesem Berghain-Stil in Kombination mit klassischer Musik. Diese shabby-chicen Orte können auch nerven. Die meisten Dinge sind da ja eher Häppchen-Kultur. Da wird dann irgendwas mit Hochkultur in einer hippen Location gemacht ...
niusic: Reicht nicht die pure Musik?
Stockhammer: Ich kann das total verstehen, wenn jemand so denkt. Natürlich reicht die pure Musik auch. Aber wir sollten nicht vergessen, dass es die ja noch überall gibt. Solche Veranstaltungen wie hier und normale, konventionelle Sinfoniekonzerte stehen in einem Verhältnis, dass niemand Angst haben braucht, bald nur noch zu klassischer Musik auf dem Boden sitzen zu müssen.
niusic: Hier ist ja das Konzept, dass man herumlaufen kann ...
Stockhammer: Ja. Ein Konzert ist einfach eine Hürde, nicht nur wegen der anderen Rituale, sondern auch, weil man gezwungen ist, dort zu sitzen. Und ich finde das eine sehr intelligente Idee, dass man diesen Zwang auflöst. Vielleicht hören dann mehr junge Leute zu. Und solange die Musik gut ist, also qualitativ hochwertig, sollte das auch niemanden stören.
niusic: Was ist für dich das Besondere an diesem Orchester?
Stockhammer: Die „Junge Norddeutsche Philharmonie“ ein wirklich qualitativ hochwertiges Orchester. Das klingt jetzt pathetisch – aber: In diesem Orchester herrscht ein wahnsinnig frischer Geist, und das hört man in der Musik auch. Sie ist lebendig, und man stellt sich unter Jugendorchester ja immer mindere Qualität vor. Das ist wirklich nicht der Fall. Du warst doch gerade in den Proben. Würdest du was anderes sagen?
niusic: Nein. Qualitativ ist das sehr gut. Mir ist vor allem aufgefallen, dass die Musiker ziemlich mit dir diskutieren. Du wolltest ja gerade kurzfristig ändern, wo alle sitzen. Das stieß auf Widerstand. Nervt das nicht? Wäre dir ein Berufsorchester, die kuschen, nicht lieber?
Stockhammer: (lacht) Nenne mir ein Berufsorchester, das kuscht. Das ist dort nicht anders. Und das ist auch verdammt gut so. Bei Tarifvertragsorchestern hat sich das sehr geändert. Die Klangkörper haben sich total emanzipiert.
niusic: Tut das der Musik gut? Oder braucht es einen dominanten Dirigenten?
Stockhammer: (lacht) Teils, teils. Die Orchester sind viel besser geworden in den letzten zwanzig Jahren. Damals hatten auch die großen Rundfunkorchester keine Lust auf zeitgenössische Musik. Da war man mit Ausreden konfrontiert, dass man das am Wochenende nicht üben konnte, weil man mit den Kindern auf dem Fußballplatz stand. Das zählt heute nicht mehr und das passiert auch nicht mehr. Die Bereitschaft der Orchester, sich auf Neues einzulassen, ist viel größer geworden.
niusic: Liegt das nicht daran, dass mehr Freelancer in Orchestern sind, man also nicht mehr auf der unbefristeten Stelle sitzt und einem so gar nichts anderes übrig bleibt?
Stockhammer: Das kann sein. Als ich Mitte der 90er Jahre kam, da waren vor allem die Orchester, die aus Freelancern bestanden, diejenigen, bei denen ein freier Geist herrschte. Die hatten wirklich Lust auf Stuhlkante zu spielen. Wenn ich dann die gleichen Musikerinnen und Musiker in ihren festen Orchestern gehört habe, dann war das teilweise eine bittere Überraschung. Der selbe Musiker kann in einem anderen Orchester ein ganz anderer Musiker sein.
niusic: Ist das heute wirklich anders?
Stockhammer: Es mischt sich immer mehr. Die jungen Musiker, die nachkommen, so wie hier im Orchester, die werden immer besser, sowohl technisch wie auch musikalisch. Die Musiker sind heute nicht mehr da, weil sie bezahlt werden, sondern weil sie es wirklich wollen.
Das Kurzfestival „detect“ lässt keine Häppchen zu. Sowohl das Klarinettenkonzert von Wolfgang Amadeus Mozart, Solist ist Sebastian Manz, wie auch die 7. Sinfonie von Gustav Mahler werden mit allen Sätzen gespielt. Dazwischen wird Terry Rileys „In C“ mit elektronischen Klängen von Maier-Hauff & Urbat verschränkt, anschließend gibt es einen ganzen Brocken zeitgenössischer Kammermusik von Luciano Berio bis Jörg Widmann und Neues in größerer Besetzung vom Neophon Ensemble. Wer nach diesen sechs Stunden noch nicht genug hatte, konnte sich die Seele aus dem Leib tanzen. Das Konzept ist einfach: gute Musik nebeneinander aufführen, ohne Barrieren, ohne Zwänge.
niusic: Gewagte These: Kann es sein, dass die Institutionalisierung eines Orchesters mit festen Stellen der Musik schadet?
Stockhammer: Das ist ganz klar. Ich brauche selbst die Frische manchmal. Wenn ich Projekte mache, die nur symbolisch honoriert werden, dann ist es tatsächlich so, dass ich auch anders arbeite.
niusic: Also die Nachricht an alle Veranstalter: Bezahlen Sie Herrn Stockhammer nur symbolisch ...
Stockhammer: (lacht) Nein! Nicht aus dem Kontext reißen, denn der Rückschluss ist falsch. Es erklärt einfach nur, woher dieser andere Geist kommt. Das ist ganz klar, weil sich die Gemeinschaft der Musiker dann enger zusammenschließt, weil es ja alle nicht primär wegen des Geldes tun, sondern wegen der Leidenschaft und dafür gleichzeitig andere Dinge nicht tun, die vielleicht besser bezahlt werden. Das sind Herzensprojekte. Man braucht beides. Ohne das eine kann das andere nicht existieren. Aber alleine wenn man in öffentlich finanzierte Orchester schaut, dann sprechen die nicht von einer Probe, sondern von einem „Dienst“. Ich mache keinen Dienst. Ich mache Musik.
niusic: Wie sieht denn die Zukunft aus für die Musikerinnen und Musiker der „Jungen Norddeutschen“?
Stockhammer: Ich bin davon überzeugt: ziemlich positiv. Die Kulturlandschaft ändert sich rasend schnell. Die Musiker, die wirklich eine Zukunft wollen, müssen mehr als nur gute Musik machen. Man braucht genau solche Projekte wie dieses hier, die von Musikern angestoßen wurden. Mit einem Willen, dass man etwas verändert. Hier spielen viele noch in Kammermusikbesetzungen, es entstehen neue Ensembles aus diesem Kreis, die Organisation stemmen sie selbst, sie sorgen selbst für das Marketing. Und dennoch leidet die Musik nicht, im Gegenteil. So muss die Zukunft aussehen.