Von Hannah Schmidt, 22.07.2017

Augen zu und Beethoven

Während auf Hamburgs Straßen Steine flogen und die Polizei mit Wasserwerfern gegen Demonstranten vorging, saßen in der Elbphilharmonie die G20-Staatschefs zusammen und hörten Beethoven. Das Konzert an sich war kein Fehler - wohl aber die Wahl des Repertoires.

Chaotische Straßenszenen. Durcheinander rennende Menschen, überall Rauch und Müll, hin und wieder der Strahl von Wasserwerfern, mit denen die Polizei die Menge auseinander zu treiben versucht. Loderndes Feuer, davor ein junger Mann mit dem Banner „Capitalism kills“. Nur einen Kilometer weiter sitzen genau zum gleichen Zeitpunkt die Staatsoberhäupter von 20 Ländern mit gefalteten Händen in den dunkelgrauen Sesseln der Elbphilharmonie und lächeln selig bei den Klängen von Ludwig van Beethovens 9. Sinfonie. N24 schaltete beide Live-Szenen am 7. Juli über einen Split-Screen direkt nebeneinander. Was wirkt wie eine wahrgewordene Filmidee von Stanley Kubrick, ist sicherlich eine der skurrilsten Szenen, die sich in diesem Jahr in Deutschland abgespielt haben.

Gewaltfantasien zu den Klängen der 9. Sinfonie

Das lag nicht an der Konzertsituation an sich, in der sich die G20-Teilnehmer da befanden, während draußen die Steine flogen. Die Kubrick-Assoziation ergibt sich allein aus der Auswahl des Repertoires: So hat Alex, der Protagonist in „Clockwork Orange“ eine Vorliebe für Beethoven – und lebt zu den Klängen unter anderem der 9. Sinfonie seine Gewaltfantasien aus. Gleichzeitig ist diese Sinfonie, ist Beethovens Musik nicht nur Teil des kollektiven Musikgedächtnisses, sondern auch immer wieder missbraucht worden: Sie diente häufig als eine Art Stütze für politische Überzeugungen, war beispielsweise für Anatoli Lunatscharski, den Volkskommissar für das Bildungswesen in der Sowjetunion, „ein Vorbild für die sozialistische Revolution“, wie Esteban Buch in seiner Studie „Beethovens Neunte“ schreibt. Gleichzeitig galt Beethoven aber für die Amerikaner als „echter Demokrat“ und demgegenüber wiederum für den deutschen Wissenschaftler Adolf Sandberger als „Festung, die kein Versailler Vertrag zu zerstören vermag“. Seine Musik steht, so Buch, in der Tradition der Staatsmusik. Ab 1933 war Beethoven sogar, so beschreibt es Eleonore Büning in einem Interview mit dem Hessischen Rundfunk im Jahr 2010, noch vor Wagner „der Vorzeigekomponist“.

Der „deutscheste aller musikalischen Meister“

Beethovens Musik, vor allem seine Schlussbildung, sei „ungeheuer affirmativ, bestätigend, positiv“, sagt sie. „Wagner war ein unsicherer Kandidat. Beethoven war verlässlich. Totalitäre Regime oder Staatsgebilde, die Wert legen auf Repräsentation und Affirmation vor allen Dingen – also Bestätigung des Bestehenden – haben eine stärkere Affinität zu Beethoven als andere.“ Beethoven galt im Nazideutschland gar als „der deutscheste aller musikalischen Meister“, die Neunte war fester Bestandteil der nationalsozialistischen Festriten. Allein vor diesem Hintergrund und vor dem Hintergrund der aktuellen weltpolitischen Situation ist es blauäugig, den Teilnehmern des G20-Gipfels einfach so nur Beethovens Neunte vorzuspielen!

Beethovens optimistische Friedenshymne wurde nach 1945 nachvollziehbarerweise als nicht mehr glaubhaft empfunden.

Nicht ohne Grund wurden nach Ende des Zweiten Weltkriegs immer wieder andere Werke entweder in die Komposition eingebunden oder die Sinfonie kombiniert beispielsweise mit Auftragskompositionen, wie Mariss Jansons es 2012 in seinem gesamten Zyklus machte. Beethovens optimistische Friedenshymne wurde nach dem Krieg und dem Holocaust nachvollziehbarerweise als nicht mehr glaubhaft empfunden. Michael Gielen baute beispielsweise als erster im Jahr 1978 Arnold Schönbergs „Überlebenden aus Warschau“ in den Beginn des vierten Satzes der Neunten ein. Erschütternde acht Minuten, in denen aus Ich-Perspektive die Niederschlagung des Aufstands gegen die Massendeportationen in Konzentrations- und Vernichtungslager vom Warschauer Ghetto aus beschrieben wird.

Screenshot der N24-Übertragung

Wie aufrüttelnd, wie großartig wäre es gewesen, hätte man diese 20 Staatsoberhäupter dazu gezwungen, sich vor der Beethoven-Jubelhymne Schönbergs „Überlebenden aus Warschau“ anzuhören! Wenn Kent Nagano es vielleicht gar entgegen der Abmachung einfach gemacht hätte! Was hätte dieses Konzert, was hätte Musik an dieser Stelle alles leisten können! Dieser Abend hätte mehr sein können als „Wir hören schöne Musik und essen danach was Teures“, er hätte Bewusstsein schaffen können für die Verantwortung, die Staatsoberhäupter ihrer Bevölkerung gegenüber haben! Diese Chance ist verpasst worden. Entstanden ist eine weitere hochskurrile und höchstseltsame Szenerie – die aber wenigstens von Fernsehsendern wie N24 durch kommentarloses Nebeneinanderschalten der Schauplätze sichtbar gemacht wurde.

© Unicorn Riot/vimeo/Screenshot CC BY
© Screenshot: Hannah Schmidt


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