„Tinnitus beendet Berufsmusikkarriere“ lautete die lapidare Überschrift vor ein paar Wochen auf dem Onlineportal Codexflores.ch über das Karriere-Aus von Andreas Ambühl. Normalerweise werden solche krankheitsbedingten, biografisch ja oft tragischen Entwicklungen nicht an die große Glocke gehängt. Stattdessen quälen sich die betroffenen Musiker mit Hörschäden oder chronischen Rückenschmerzen durch ihren Berufsalltag, bis es gar nicht mehr geht, und verschwinden dann lautlos und oft schamvoll in der Versenkung. Der Schweizer Saxofon-, Bassklarinetten- und Chalumeauspieler Andreas Ambühl, Mitglied u.a. im Ensemble Tritonus, dagegen geht mit seinem Problem offen um: Am 2. September gab er in Zürich noch ein letztes Abschiedskonzert mit seiner Gruppe, danach hat der Tinnitus (zumindest vorerst) gesiegt. Sein Ensemble gab eine Presserklärung heraus, und auf Ambühls Website findet sich eine entsprechende Meldung. Blasinstrumente solle er bis auf weiteres keine mehr spielen, so seine Ärzte. Was macht man mit 40 Jahren, wenn einem die Musik Leidenschaft ist, aber zugleich auch zum Leid wird?
Es sollte ein Vorbild für andere Betroffene sein, wie Andreas Ambühl, mag er auch hierzulande nicht sonderlich bekannt sein, mit seiner Erkrankung umgeht. Noch immer umweht Berufskrankheiten von Musikern allzu oft die Aura des Tabus, des Versagens – vor allem, wenn psychische Erkrankungen mit im Spiel sind: Burnout, Depressionen oder extremes Lampenfieber. Hörschäden und Tinnitus sind unter Musikern schon eine Art Volkskrankheit, aber auch Panik- und Angstanfälle gehören inzwischen zum Berufsleben an Saiten und Klappen, wie zum Beispiel die Studie „Can Music Make You Sick?“ mit über 2200 jungen Musikern herausfand. Als Gründe wurden meist die schlechten Arbeitsbedingungen angeführt: ungesicherte Bezahlung, Arbeitsstunden, die sich nicht mit einem guten Privatleben in Einklang bringen lassen, Erschöpfung durch lange Dienste. Zudem sind die meisten Musiker getrieben von Perfektionismus: Er ist Antrieb und Fluch einer jeden Karriere, der unfreundliche Begleiter beim jahrelangen Üben im stillen Kämmerlein, bei der Selbstzerfleischung und den Wettbewerben und Probespielen, die zum Unmenschlichsten und Stressigsten gehören, was der Kulturbetrieb zu bieten hat.
Der andauernde Stress-Pegel, unter dem viele Musiker leiden, ist Produkt eines Teufelskreises: Jeder junge Musiker spürt die wachsende Konkurrenz auf einem umkämpften Arbeitsmarkt, für den seit jeher viel zu viele gute Leute für zu wenige freie Stellen ausgebildet werden. Die Musikindustrie suggeriert zudem mit ihren fehlerfrei aufgehübschten Einspielungen, dass Musik perfekt klingen müsse. Und wenn wir mal ehrlich sind: Wer im Publikum möchte schon einen zitternden Bogen sehen? Eine Bach-Chaconne durch plötzliche Gedächtnis-Lücken verstolpert hören, einen Orchestermusiker angelehnt spielen sehen, weil es die Rückenschmerzen vermindert? Und so befinden sich viele Musiker in einer Arbeitsmühle, werden schon als Kinder darauf getrimmt, sich mit anderen zu messen und besser, besser, besser zu werden. Wer dann bis 30 noch keine Orchesterstelle „gewonnen“ hat, für den dreht sich die Stressspirale noch ein wenig schneller. Kein Wunder, wenn Körper und Geist das irgendwann nicht mehr mitmachen.
Doch viele schämen sich, dass sie den Anforderungen des Berufs nicht gewachsen zu sein scheinen, dass sie „versagen“ bei einer Sache, die ihnen doch (zumindest ursprünglich) unendlich viel bedeutete. Das Wollen und Nicht-Können ist wohl etwas vom Schlimmsten, das dem Menschen widerfahren kann. Wer diesen Kampf kämpft und Wege findet, zu siegen – oder aber von diesem Dilemma besiegt wird –, hat jeden Respekt verdient. Zum Glück wächst langsam, aber spürbar das Bewusstsein für die besonderen Anforderungen, die der Musikerberuf mit sich bringt: Es gibt Spezial-Ärzte für Musiker, Kongresse zur Musikermedizin, Entspannungstechniken und Lampenfieber-Coachings im Rahmen des Studiums.
Ändern müsste sich aber auch unsere Erwartungshaltung, die des Publikums, das Perfektion als Selbstverständlichkeit voraussetzt, das den „Interpreten“ hinterm Instrument in seinem Menschsein ausblendet und Professionalität mit „Fehlerlosigkeit“ gleichsetzt. Doch Musik klingt live zum Glück eben nicht wie aus der Konserve, sondern jedes Konzert ist aufregend anders und lebt auch vom Risiko, dass etwas schief geht. Das Scheitern von Musikern am Druck und die physiologischen Folgen können uns heute die Fallhöhe der inzwischen erreichten Perfektion ins Gedächtnis rufen. Deshalb ist es so wichtig, dass Musiker offen mit ihren Erkrankungen und Verschleiß-Beschwerden umgehen dürfen. Erst indem nicht mehr durch Totschweigen jeder Ausfallserscheinung die Perfektion zur Normalität erklärt wird, können wir sie im Zeitalter der Tonaufnahme wieder als unglaubliche Leistung würdigen und den Erwartungsdruck relativieren. Eine Utopie? Vermutlich. Dennoch: Mit dem Start der neuen Saison treten derzeit wieder viele Einheits-Schwarz gekleideten Musiker für die große gemeinsame Sache an, werden freiwillig und gerne und oft voller Enthusiasmus zu kleinen Rädchen im großen Orchestergetriebe. Wir müssen aufpassen, dass sie darin nicht zerquetscht werden.
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