Von Robert Colonius, 30.06.2017

Festivalflut

Ostfriesland: immer etwas verregnet, garantiert berglos und idyllisch. Für „Sturm und Klang“ sorgen aber nun in den nächsten Wochen die neuen „Gezeitenkonzerte“. Zwischen Kuhweiden und pittoresken Dörfern konzertieren dort etliche, zum Teil weltbekannte Musiker.

v.l.: T. Becker-Bender, E. Yoon, M. Kirschnereit, Y. Hara

„Mucksmäuschenstill war es gestern, trotz himmlischer Längen“, sagt der Pianist und künstlerische Leiter der „Gezeitenkonzerte“ Matthias Kirschnereit. „Als seien alle nach der Pause gegangen.“ In der Tat: Als Eröffnungskonzert gleich zwei schwere Brocken Kammermusik, und kein Rascheln, Flüstern oder Hüsteln machte sich breit, sondern eine konzentrierte Ruhe. Es geht also doch, auch wenn die „Generation Silber“ wieder einmal in großer Überzahl war. Zuerst die (vermutlich) deutsche Erstaufführung von Antonín Dvořáks Streicherserenade in ihrer Urfassung für Streicher, Bläser und Klavier. Nach der Pause kam dann das gewaltige, einstündige Oktett (D803) von Franz Schubert. 400 Menschen (keiner war gegangen), zum Teil noch durchnässt vom Dauerregen, lauschten gebannt in den Backsteinmauern der Emdener Johannes-a-Lasco-Bibliothek. Das alles wurde, wenn auch mit anfänglicher Nervosität und viel Erwartungsdruck, superb gespielt – Tanja Becker-Bender meisterte die Gemeinheiten in der Stimme der ersten Violine, und unter den Solisten der Kammerphilharmonie Bremen brachte Markus Künzig auf seinem Horn so leise und getupfte Töne hervor, als sei das gar nicht schwer. Doch eine derartige Konzentration beim Publikum findet sich äußerst selten. Warum hier in Ostfriesland?
„Am Anfang war mir noch recht unklar, was mich erwartet. Mir wurde gesagt, die Ostfriesen seien von einem besonderen Menschenschlag“, so Kirschnereit. „Erst begegneten sie einem mit Skepsis. Doch wenn man sie für sich gewinnen kann, seien sie sehr loyal. Bei uns hat die Skepsis allerdings nie stattgefunden.“

Die Klischees von Tee, Witz und Otto Waalkes greifen zu kurz. Denn Ostfriesland (es liegt im äußersten Nordwesten Deutschlands und gehört zu Niedersachsen) scheint auch ein fruchtbarer Boden für klassische Konzerte zu sein. Zwar sind die 2012 gegründeten „Gezeitenkonzerte“ mit 32 Aufführungen nach Festivalgröße eher im Mittelfeld positioniert. „Trotzdem spielen wir in der künstlerischen Championsleague.“ Kirschnereit wirft sich in die Brust. Unter dem Programm finden sich auch dieses Jahr einige große Namen: Leif Ove Andsnes, die Tetzlaffs, Sabine Meyer, Maria João Pires. Und sogar die russische Pianistenlegende Grigory Sokolov, auch bekannt dafür, wirklich nur zu spielen, wenn alles „stimmt“, kommt dieses Jahr wieder. „Den bekomme ich nur ins Theater in Leer, in Kirchen spielt der nicht“, erzählt Kirschnereit. In nahezu jedem Dorf in Ostfriesland steht eine Kirche, einige noch aus dem Mittelalter.

„Es ist keine Sünde, auch einfach mal nur zu genießen.“

Matthias Kirschnereit

Musikalisch verfolgen die „Gezeitenkonzerte“ keine programmatische Linie. „Wir sind wie ein Gemischtwarenladen, kein Spezialfestival. Ein roter Faden bildet sich oft erst hinterher. Alles soll da sein, auch harte Kontraste“, so Kirschnereit. Lässt sich so überhaupt ein künstlerisches Profil herstellen? Der Verdacht liegt nahe, dass das ganze Festival unbedingt allen und jedem gefallen können soll. Im Programm steht neben Orchesterkonzerten (z.B. der Hong Kong Sinfonietta) und den üblichen Klavierabenden auch ein Komponistenporträt (Jan Müller-Wieland) sowie „leichte Klassik“ („Gezeiten-Classixx“). Dazu Jazz und auch ein Schauspielstück („Der Kontrabass“ von Patrick Süskind). Bei den „Gipfelstürmern“ stellen sich die Nachwuchsstalente vor. „Die Aufmerksamkeit des Publikums wird gerade durch diese Kontraste geschärft.“ Kirschnereits Credo: „Es ist dabei keine Sünde, auch einfach mal nur zu genießen." Der Schwerpunkt liege aber, wie beim Eröffnungskonzert, auf klassischer Kammermusik.

Musikalische Vielfalt, besondere Spielorte und große Namen: Das Konzept der „Gezeitenkonzerte“ geht auf. Seit 2012 wächst das Publikum jährlich um 10 bis 20 Prozent. Doch wie kann ein noch so junges Festival derart viele Prominente der Musikszene an sich binden und finanzieren? Kirschnereit führt dies auf seine Kontakte zurück: „85 Prozent der Künstler kenne ich persönlich. Nur so bekommen wir das finanziell gestemmt.“ Das Gesamtbudget sei eher überschaubar. „Wir sind aber auch kein Almosenfestival, alle Künstler sollen erhobenen Hauptes kommen und gehen. Und wiederkommen.“ Beim Umgang mit den Stars müsse dann aber auch der ein oder andere kapriziöse Wunsch in Kauf genommen werden. „Der richtige Wein, die passende Temperatur ... Das sprengt eigentlich unseren Rahmen. Aber so what?“
Die ländliche Atmosphäre scheint zudem ihre Wirkung zu entfalten: Manche Musiker kämen bei der Ruhe, die dieser Ort ausstrahle, besonders gut zu sich. „Man sieht die Wolken ziehen, die Kühe grasen und untermalt das alles z.B. mit Brahms-Intermezzi.“ Kirschnereit gerät ein wenig ins Schwärmen.

v.l.: Ingolf Turban, Matthias Kirschnereit, Christian Ostertag

Kontrastprogramm in Bargebur: Nach dem gestrigen Auftaktkonzert spielt und moderiert der künstlerische Leiter einige Salonstücke und Kuriositäten mit dem „buchstäblich größten Geigerduo“: Christian Ostertag überragt sogar noch den offenen Flügel. In Alan Ridouts „Ferdinand The Bull“ für Violine und Sprecher (1971) übernimmt er auch die Rolle des Geschichtenerzählers, die er einnehmend zu füllen versteht. Gerade hier hätte man sich doch mehr jüngeres Publikum gewünscht. Ingolf Turban hingegen legt in Pablo Sarasates „Carmen“-Fantasie den höchsten Virtuosengang ein. Schwindelerregend. Erst ungläubiges Staunen, dann Ovation. Und Kirschnereit, der an diesem Abend nur den „Korrepetitor“ spielt, wie er sagt, hält sich vornehm zurück und überlässt den beiden Geigern die virtuose Arbeit.

Alles nur Glück?

Von allen Seiten positive Resonanz. Die „Gezeitenkonzerte“ seien ein „strahlender Komet am Festivalhimmel“, so Ministerpräsident Stephan Weil mit einigem Stolz. Jährlich Rekordzahlen beim Verkauf. Wie geht man damit um, wenn es eigentlich nicht besser werden kann? „Das ist natürlich alles wunderbar, aber auch eine Bürde. Ich fürchte den Moment, wenn es heißt: Dieses Jahr wurden leider nicht so viele Karten verkauft. Das setzt mich unter Druck“, sagt Kirschnereit.
Über 500 Musikfestivals gibt es allein in Deutschland. Da ist es ein Kunststück, zu bestehen. Manchen Festivals springen die Sponsoren ab. Andere stehen thematisch in direkter Konkurrenz und müssen um jeden Besucher buhlen. Nicht so in Ostfriesland. Alles nur Glück? Um das beurteilen zu können, müssen wohl weitere fünf Jahre verstreichen. Bis dahin dürfte sich auch noch etwas anderes geklärt haben: Viele Künstler wüssten erst gar nicht, wo Ostfriesland liegt, meint Kirschnereit. „‚Muss ich da nach Hamburg fliegen? Bei Föhr, Rügen?’, höre ich oft. Aber wer einmal da war, vergisst es nicht.“

Moin Musik!

Eine Reise nach Ostfriesland verspricht einen kühlen Sommer – und einen hochmusikalischen. Vom 23. Juni bis zum 13. August finden insgesamt 32 „Gezeitenkonzerte“ von Aurich bis Wirdum statt. Das seit 2012 bestehende Festival hat jährlich ein großes Aufgebot von Weltstars und gestaltet Programme u.a. mit Klassik, Neuer Musik und Jazz.
Mehr Information unter www.ostfriesischelandschaft.de/gezeitenkonzerte.

© Karlheinz Krämer


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