Cosima strahlt. Ihre Einzel-Stimmbildungsstunde ist gerade vorbei, sie ist von der Abendprobe entschuldigt, hinter dem Fenster in ihrem Rücken legt sich Dämmerung über den Schlosshof in Weikersheim. Nur wenige Stunden ist es her, dass sie ihre Aufnahmeprüfung für ein Hauptfachstudium Gesang in Mainz bestanden hat. Jetzt ist Cosima hier, wieder. Aus dem Flur und vom Hof kommt Musik, ein Querflötenduett, ein paar Hörner aus der angegliederten Musikakademie, dazu ferne Männerstimmen, Sopran und Alt 262 des Mozart’schen „Ave verum corpus“. Alles mischt sich zu einem cluster- und zauberhaften Klangnebel, der ab jetzt drei Tage lang über dem Schloss liegen wird.
Die vier Stimmgruppen bezeichnen heutzutage in erster Linie die Stimmlage, in der ein Mensch singt: Sopran ist die hohe Frauen- und häufig Melodiestimme, die Frauen im Alt sind nicht älter, sondern singen die tiefere Frauenstimme. Gleichermaßen ist der Tenor die hohe und der Bass die tiefe Männerstimme. ↩
Professionsdurchmischt
Cosima ist seit drei Jahren Teil der Audi-Jugendchorakademie, „Wiederholungstäterin“, wie sie sagt. Sopran, 25 Jahre alt, hat Schulmusik studiert und in der Akademie das Singen lieben gelernt. Sie hätte vorher nie gedacht, sagt sie, „dass aus meiner Stimme noch so viel rauszuholen ist.“ Sie hat musikalischen Hintergrund und gehört damit zu etwa einem Drittel ähnlich ausgebildeter Mitglieder. Der Rest ist durchmischt: „Wir haben Verkäuferinnen, Maschinenbauer, Bäckerei-Lehrlinge, Schüler, Mediziner, einen Polizisten. Alles.“ Zwar kommen jedes Jahr neue Bewerber zum Vorsingen, doch hält sich seit zehn Jahren, seit Bestehen des Chores, ein zentraler Kern von etwa 50 bis 70 Teilnehmern. „Wir sind wie eine Familie“, sagt Cosima. „Eine große Familie, zugegeben.“ Zur Probenphase zu kommen, sei wie „nach Hause“ zu kommen. Sie und ihr Freund Maximilian (25), Bass, haben sich in ihrem ersten Jahr dort kennengelernt. Eine Akademie-Romanze.
Martin Steidler, Leiter der Jugendchorakademie
Es ist aber nicht nur romantisch in der „Familie“. Seit einigen Jahren ist das Projekt nicht nur Bayern- sondern bundesweit geöffnet, und es kommen immer bessere, immer begabtere Teilnehmer zum Vorsingen, seit etwa zwei Jahren deutlich mehr als tatsächlich mitsingen können. Was macht man, wenn man ein paar richtig gute Bewerber zu viel hat – und demgegenüber einige „Alte“, die vielleicht nicht so gut sind? Chorleiter Martin Steidler beißt bei der Nachfrage die Zähne aufeinander. „Das ist sehr, sehr schwierig“, sagt er. Das „gemeinsam Gewachsene“ spiele eine große Rolle „und hat zunächst Vorfahrt. Aber wenn tolle neue Leute kommen, versucht man auch, die reinzubringen. Das muss man im Einzelfall abwägen.“ Aber auch, wer zu alt wird, in diesem Fall 28 Jahre, muss gehen. „Das haben wir von Anfang an so festgelegt“, sagt Martin Steidler. „Es war klar, dass das ein Jugendförderprojekt sein soll, und da muss man mit der Grenze relativ streng sein. Auch wenn es manchmal schmerzhafte Abschiede sind.“
Alle zwei Jahre müssen die „Alten“ darüber hinaus ein Kontroll-Vorsingen machen. Das ist für manche aufregend, ein Stressfaktor. Dabei ginge es aber nicht darum, auszusieben, sagt Steidler, sondern darum, die Entwicklung des- oder derjenigen nachzuvollziehen. Für ihn als Chorleiter seien diese Vorsingen wichtig, denn er selbst höre seine Sänger immer nur im Chor und nicht oder nur in Ausnahmefällen solo, braucht die Kenntnis der Stimmen aber für die Aufstellung: die „ganz charakteristischen“, obertonreichen, vielleicht gar scharfen Stimmen eher in die Mitte einer Reihe, die „mischfähigen“ Stimmen eher an den Rand, starke Stimmen in die zweite Reihe, die etwas feineren in die erste. Erfahrungswerte, sagt er und lächelt.
Martin Steidler
Zur Entstehung der Audi Jugendchorakademie trugen maßgeblich persönliche Kontakte bei – denn der Kulturreferent der Audi-Kommunikationsabteilung, Sebastian Wieser, singt im Heinrich-Schütz-Ensemble von Martin Steidler. „Der Ausgangspunkt war, ein Jugendförderprojekt auf die Beine zu stellen", erzählt Wieser. Steidler war für ihn der optimale Ansprechpartner. „Wir haben gemeinsam länger hin und her überlegt, in welche Richtung das gehen soll. Dabei ist uns aufgefallen, dass es so etwas, eine Chorakademie für Jugendliche mit Schwerpunkt auf dem Fördergedanken, noch nicht gibt.“
Es ist eine Win-Win-Situation: Für Steidler und seinen so entstandenen Chor gibt es große Auftrittsmöglichkeiten und ein entsprechendes Förderbudget, und für Audi ein weiteres Element kulturell-intellektueller Imagearbeit. Statistisch gesehen kommt dieses Sponsoring bei potenziellen Kunden gut an. So singen die 70 bis 100 Jugendlichen jedes Jahr auch ein bisschen für den Verkauf schneller Autos, zumindest indirekt. Seit Dezember 2016 ist der gemeinnützige Verein Jugendchorakademie e.V. Träger des Projekts.
Martin Steidler und die Jugendchorakademie
Neue Literatur „ist immer ein Wagnis“
Es ist heiß draußen und es zieht durch den weitläufigen Probenraum. Eines der kleinen Altbau-Fenster schlägt scheppernd zu, mitten in den Vokalklängen einer zeitgenössischen Komposition. Keiner der hochkonzentrierten Sänger zuckt auch nur zusammen bei diesem Geräusch. Manche haben die Schuhe ausgezogen, andere stehen auf ihren Stühlen, um den Schlag des Dirigenten besser zu sehen. Einige Stimmen sind von dem Platz an der Seite deutlich herauszuhören. Kernige Stimmen sind dabei, starke und laute und auch filigrane mit einem ganz weichen Timbre.
So lange am Stück wie jetzt singen die Sänger selten in der Probe. Meist schlägt Martin Steidler nach nur wenigen Takten wieder ab und merkt Details an, gibt den Einsatz erneut, schlägt wieder ab. Er arbeitet mit hohem Anspruch, sehr detailliert, nah am Notentext, manchmal penibel, wenn es nur um die richtige Formung eines einzigen Vokals geht. Die Chorsänger feiern ihn für seine Arbeit, manche kommen vor allem auch seinetwegen wieder, sagen sie. Unter seiner Leitung beißen sie sich auch durch ungewohnte, schwere, neuere Literatur, die „immer ein Wagnis“ darstelle, sagt Steidler. Sie kämpfen sich durch Kompositionen, die sich in ihrer Struktur vielleicht nicht sofort erschließen, die nicht in der Probe unmittelbar wunderschön klingen. Werke wie Wolfram Buchenbergs A-Cappella-Stück 2 (plus Vibrafon) „O nata Lux“ sind „sackschwer“, wie Max, Cosimas Freund, es einmal in Bezug auf neuere Musik formuliert.
Schmeißt die Instrumente weg! Ursprünglich waren sie im 16. Jahrhundert bei dieser Form des Gesangs zwar erlaubt, nur mussten diese genau das tröten, was auch gesungen wurde. Der Begriff ist heute sehr populär, vor allem in den USA feiert man den A-capella-Gesang, der komplett ohne Begleitung auskommt. Orale Magie! (CW) ↩
Hier probt der Chor Wolfram Buchenbergs „O nata Lux“
Nach eineinhalb Stunden seufzen die ersten angestrengt auf. Ein bestimmter Einsatz scheint nicht klappen zu wollen, immer ist irgend etwas anderes, was irgend eine Stimmgruppe nicht beachtet hat. Einsatz, abschlagen, Einsatz, abschlagen. Aber dann klappt es. Einige Anläufe später steht der vielstimmige Klang satt und griffig im Raum, die Luft vibriert hörbar, so dicht an dicht schwingen die Stimmen. Der Raum scheint wie vollgestopft mit Klang. Er ist definitiv zu klein für diese vielen gut ausgebildeten Organe. Nach eineinhalb Stunden Probe will keiner der Anwesenden auch nur eine Minute überziehen. Das Niveau ist hoch und anstrengend.
Nach und nach klappen alle die Noten zu, atmen auf, die Stimmung wird lockerer. Gruppen formieren sich, die ersten gehen nach draußen. Ihre Stimmen und ihr Lachen, hier und da ein gesungener Ton, verlieren sich im Schlosshof.
Trotz ihrer zusätzlichen solistischen Ausbildung herrscht unter den Teilnehmern kein Wettbewerb. An den „bunten Abenden" bei den Probenwochenenden lassen sie traditionell ein bisschen kreativen Dampf ab, ohne dabei perfekt sein zu wollen: Manche werden von ihren Stimmbildnern gefragt, ob sie nicht etwas solo vortragen möchten, andere bereiten aber auch einfach so kleine Acts vor, begleiten sich selbst oder gegenseitig am Instrument, machen mal was Anderes als in den eigentlichen Proben. Auch rührselige Abschiede hat es bei diesen Abenden schon gegeben, mit selbst gedichteten Erinnerungs- und Abschieds-Texten auf bekannte Melodien.
Hier in Weikersheim treffen sich die Sänger im „Keller" im Schloss, in fußläufiger Nähe zu den Zimmern, in denen sie schlafen. „Ohne Alkohol aber", sagt Cosima, „und es geht auch nicht so lange." Ganz selbstverständlich geht der Zug der „Audis" nach der Probe Richtung Schlossausgang, wo eine Treppe in den „Keller" hinabführt. Unten wird es voller und voller. Auch wenn die Stimmung gut ist, ihnen würde „irgendwann" – gegen Mitternacht – schon nahegelegt, zu Bett zu gehen, sagt Cosima. Am nächsten Tag sollten alle schließlich wieder fit sein. Es gibt ja nur diese zwei bis drei Wochenenden im Jahr.
In den anderen Unterkünften in Hammelburg, Ochsenhausen, Marktoberdorf oder Niederalteich, sind die Abläufe die gleichen. Eingespielt, diszipliniert, motiviert und intensiv. Wenn auch nicht vor vergleichbar majestätischer Kulisse.
„Zeit und Ewigkeit“
Das aktuelle Projekt ist „seit langer Zeit mal wieder“ eins, das Steidler selbst konzipiert hat. Einzige Vorgabe von den Sommerkonzert-Organisatoren: Chor und Schlagwerk verbinden. Er sieht im Chor etwas Unendliches, Klang im Raum, den Eindruck, dass die Zeit aufgehoben würde. Schlagwerk „ist dagegen zeitlich organisiert und ein Sinnbild für das Vergängliche.“ „Zeit und Ewigkeit“ heißt das Programm jetzt.
Zwei Bach-Motetten bilden den Rahmen, dazwischen gibt es unter anderem Eriks Esenvalds „In Paradisum“, Wolfram Buchenbergs „O nata Lux“ und Knut Nystedts „Immortal Bach“. Tobias Schneid vertonte als Auftrag den „lapidaren“ Text „Wie die Zeit vergeht“, in, wie Steidler sagt, „großer epischer Breite“.
Das Konzert der Jugendchorakademie bei den Audi-Sommerkonzerten im Stadttheater Ingolstadt ist am 16. Juli, Beginn 19.30 Uhr.
Karten gibt es zum Preis von 15 bis 32 Euro unter audi.de.
© Audi-Jugendchorakademie