Von Konrad Bott, 09.06.2017

Lala-Lolita

Ein digitales Musikinstrument war selten so reizend ... oder? Der Vocaloid aka „Hatsune Miku“ singt alles, auch klassische Musik.

New York, 1968. Wendy – ursprünglich Walter – Carlos bringt eine Platte mit Bach-Einspielungen heraus. Das Besondere: Herkömmliche Instrumente gibt es darauf nicht zu hören, dafür ein fiepsendes Gerät, einen Synthesizer der Firma Moog. Carlos` „Switched On Bach“-Album wird ein Riesenerfolg. Selbst der kauzige, kanadische Pianist Glenn Gould spricht von „der Platte des Jahrzehnts“. Man darf sie also im Schrank stehen haben, gut.

Was heißt hier Interpretation?

Was zum Beispiel nicht so gut ankommt, ist, wenn du dich von deinen Freunden mit Hatsune Miku erwischen lässt. Die junge Dame mit den grünen Haaren, dem kurzen Röckchen und den großen Augen ist das Maskottchen eines Software-Synthesizers, der sich „Vocaloid“ nennt.Hatsune braucht keine Plattenverträge, keine Agenten oder Rezensenten – sie hat sich in YouTube ganz von alleine bekannt, wenn auch nicht durchweg beliebt gemacht. Weit mehr als 170.000 Videos ihrer Interpretationen von Musikstücken jeglichen Genres finden sich dort. Aber was heißt hier Interpretation? Man spielt den Vocaloid nicht, man programmiert ihn nur: Rein mit Noten und Text (falls vorhanden), und schon erklingt Hatsunes süßes, zugegebenermaßen nicht sonderlich ausdrucksstarkes Stimmchen..



Hier spielt ja nicht mal jemand was ...

Schrecklich? Schon. Aber warum empfindet man als Klassik-Fan den Vocaloid als Beleidigung der holden Kunst, während man Wendy Carlos` Bach-Interpretationen wohlwollend abnickt? Liegt es nur daran, dass Letztere den Segen der „New York Times“, des „Spiegel“ und Großmeister Goulds haben? Nein, es gibt andere Kritikpunkte: Zum einen ist, wie schon erwähnt, der interpretatorische Mehrwert des Produkts gleich null. Gut, schon Strawinski meinte, er wolle seine Werke nicht interpretiert, sondern nur ausgeführt haben, aber hier spielt ja nicht mal jemand was. Selbst Drehorgelspieler und Aprés-Ski-DJs interagieren mehr mit der Musik als derjenige, der den Vocaloid mit Informationen füttert, um zum Beispiel eine Version von Schuberts Erlkönig zu bekommen.

Cosplay-Version des Vocaloid-Maskottchens

Zweitens – und das spricht nur bedingt gegen den Vocaloid – ist da ein signifikanter Unterschied zwischen Stücken, die rein instrumental konzipiert sind, und allen Kompositionen für die menschliche Stimme. Singt Hatsune Miku mir auf eine beliebige Silbe eine Sinfonie, bin ich ihr weniger abgeneigt, als wenn sie mich mit einem Kunstlied oder einer Kantate überzeugen möchte. In den Worten und dem natürlichen Ausdruck menschlicher Regung liegt einfach zu vieles, was unsere Vocaloid-Dame (noch) nicht liefern kann. Damit hat sie aber im Grunde ihren Zweck verfehlt, denn sie ist ja als Stimm-Synthesizer entwickelt worden.

Ein gelungenes Werbewerkzeug in knapper Schuluniform

Warum eigentlich Hatsune Miku? Es ist schon bezeichnend, dass ein Computerprogramm wie der Vocaloid es nötig hat, mit einem Lolita-Püppchen beworben zu werden. Um diese Kunstfigur von „Crypton Future Media“ hat sich ein Kult entwickelt, den es so nur in der Anime-Tradition geben kann. Es gibt Hatsune-Miku-Comics und Hatsune-Miku-Merchandise. Sie ist Teil diverser Konsolenspiele, Gast auf vielen Cosplay-Veranstaltungen, 16 Jahre alt, 1,58 m groß und wiegt 42 kg. Wen das interessiert? Wahrscheinlich mehr als der Vocaloid selbst – ein gelungenes Werbewerkzeug in knapper Schuluniform. Ein Maskottchen, für das man schon auch mal etwas komponieren würde, wie es viele Leute tun. Und das ist nicht schlecht, denn der Vocaloid wirkt gar nicht mehr so absurd, wenn man ihn mit Stücken füttert, die für extra für ihn geschrieben wurden. Bach, Beethoven und Brahms? Lieber nicht mit Hatsune ...



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