Kürzlich war ich in Japan, einem überraschend leisen Land dank stillen Hybrid-Autos, dem meist sanften Gemüt der Japaner und ihrer extremen Höflichkeit. Hier wird nicht gehupt, nicht gemotzt, und Verwirrte, Verrückte oder Aggressive scheint es auch nicht zu geben, zumindest nicht im öffentlichen Raum. Stattdessen allgegenwärtig: die klassische europäische Musik. Aus Lautsprechern beschallt und begleitet sie – in dezenter Lautstärke – das Alltagsleben der Japaner. Im Supermarkt, in den Einkaufsarkaden, zum Teil sogar in Bahnhöfen und Restaurants: Überall läuft in Dauerschleife eine Art „Best Of Classics“-CD mit Pachelbel, Bach und Mozart. Woher diese extreme Faszination der Japaner für die westliche klassische Musik stammt, konnte ich während meiner Reise nicht ergründen. Geblieben ist der etwas surreale Eindruck von Japanern, die sich geschickt und ohne Eile durch ihre Millionen-Städte schlängeln, während über ihren Köpfen Pachelbels „Kanon“ aus den Lautsprechern schallt. Traumvision einer friedlichen Gesellschaft oder Horror-Szenario? Ich bin mir unsicher. Was macht Musik mit Orten, an denen sie eigentlich nichts zu suchen hat? Was macht sie mit der Gesellschaft, die ihr dort ausgeliefert ist?
Hierzulande hat die Zwangsberieselung mit den obligatorischen Fahrstuhl- und Warteschleifenmusiken angefangen. Das ist noch harmlos gegen die Berliner Sommer, in denen Horden an U-Bahn- und Straßenmusikern Berlins „Soundscape“ dominieren. Und das raubt zumindest mir oft den letzten Nerv: die immer wieder gleichen, lautstark dargebotenen Songs (nicht nur dieses Jahr bereits jetzt ganz hoch im Kurs: „Hit The Road, Jack“) oder zittrigen Querflöten-Ständchen in der S-Bahn. Es ist ja nicht so, dass es nicht den einen oder anderen guten Musiker darunter gäbe oder Musik an sich in dieser vielfältigen und verrückten Stadt kein Zuhause haben sollte. Nein, ich habe ein Problem mit dieser Zwangsbeschallung, weil dabei gerade eine Sache, die mir wichtig ist, die Musik, zu meist finanziellen Zwecken instrumentalisiert wird. Sie wird mir aufgedrängt in Momenten und Situationen, in denen ich dafür nicht bereit bin. Es hat etwas sehr Gewaltsames, wenn sich die U-Bahn-Türen öffnen und eine ganze Horde Musiker mit Gitarren, Mikrofon und Lautsprecher einfallen, um den gesamten, engen, stickigen Raum mit ihren Klängen einzunehmen. Wenn man sich dann zum Selbstschutz die Kopfhörer auf die Ohren packt und seine eigene Musik aus dem Smartphone anstellt, macht man die Sache meist nur schlimmer: Alltag in Berlin ist oft ein musikalischer Chaoszustand, der Ohren und Hirn nur überfordern kann.
Systematische Zwangsbeschallung
Richtig schlimm aber ist es, wenn Stadtverwaltungen die öffentliche Zwangsbeschallung systematisch nutzen, um unliebsame Gruppen von ihren Hotspots zu vergraulen – und das vor allem mit Hilfe klassischer Musik. In Städten wie Essen, Hamburg und München hat man das in den letzten Jahren in großem Stil ausprobiert: Die Trinker und Drogensüchtigen, die Obdachlosen und Bettler sollen, so das Konzept dahinter, von Bachs Brandenburgischen Konzerten und Co. vertrieben werden aus Innenstadtgegenden, die bitteschön nur den ordentlichen Bürgern gehören. Haben die Menschen das verdient? Hat die klassische Musik das verdient, dass man sie für solche Zwecke missbraucht? Dass sie ihren ästhetischen Wert verliert und als – auch für Klassik-Liebhaber – oft unerträgliche Dauerschleife die öffentlichen Orte beschmutzt? Gerade klassische Musik braucht einen geschützten Rahmen, um zu wirken, braucht engagierte Interpreten und willige Hörer. Und ganz sicher nicht den Alltagslärm als Klangkulisse und schlecht gelaunte Vorbeihetzende als „Zuhörer“. Man tut ihr unrecht damit und vergiftet ihr Verhältnis zu den Menschen, die klassische Musik so vor allem als unangenehmes Hintergrundrauschen wahrnehmen. Firmen wie „Mood Media“, die das Klangdesign für Hamburgs Hauptbahnhof entwickelt hat und daneben 20.000 Geschäfte in Deutschland mit passender Musikberieselung versorgt, zeigen mit ihrem Boom auch, in was für einer immer lauteren und immer größeren Klang-Glocke wir uns mittlerweile befinden. Schöne neue Media-Zeiten, Entkommen unmöglich.
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