Knorrig und unerschütterlich steht er da, frontal scharf ausgeleuchtet wie bei einem nächtlichen Party-Snapshot. Das feinkörnige Papier und der Kontrast der Schwarzweiß-Fotografie lassen den Schatten in jeder seiner Furchen und Astlöcher so tiefschwarz absaufen, als ob sich darin bereits dieselbe Nacht öffnete, die ihn umfängt.
Die Rede ist von dem uralten Olivenbaum, der ganz allein das Cover der Bachschen „Matthäus-Passion“ für sich in Anspruch nimmt. Nicht ganz allein, denn der Dirigent der Aufnahme, John Eliot Gardiner, hat sich in aller Bescheidenheit als einziger der Ausführenden zum markigen Titel dazugesellt: Bach – St Matthew Passion – Gardiner. Die Dreifaltigkeit aus Genius, Logos und Praxis.
Ich muss gestehen, das stark reduzierte Cover spricht mich enorm an. Dem Traditionsstrang aus atemlosem Bericht eines Verleumdungsprozesses, weitergereicht in mehreren Jahrhunderten mündlicher Überlieferung als Heilsgeschehen, seiner Reflektion in Chorälen der Lutherzeit bis hin zur Reaktion auf dieses Geschehen von „mir“, dem Hörer – in wunderschönen Arien voll barocker Formen- und Erfindungsfülle eingefangen –, diesem Traditionsstrang mit solch einer asketischen Ästhetik zu begegnen! Das ist so ähnlich, wie einem komplexen, auf engstem Raum geschachtelten Gerät mit all seinen Schaltkreisen die reduzierte Maske eines Ein-Knopf-Covers aufzudrücken, wie man das in Cupertino perfekt beherrscht. Nein, besser: Denn bei Bachs Passion 208 steht nicht der Profit, sondern – wortwörtlich – der Mensch im Mittelpunkt.
Denn ein Mensch, kein Gott, ist es, um den das Geschehen aus Verrat, Verleumdung, Kalkül, Sorge, Angst und Not losbricht im Passionsbericht des Matthäus. Und der doch bei allen Zweifeln selbst nicht teilhat an der Eskalation. Das besorgen andere. Ein Mensch – davon bringt mich auch der Strahlenkranz aus Streichern nicht ab, der bei Bach alle Worte Jesu mit Schimmer überzieht. Von Blitzen und Donnern, wie sie den Zorn eines Gottes begleiten, berichten andere, ja – wünschen sie auf das Haupt derjenigen herab, die mit bewusst verstellter (und verstellender) Rhetorik reden, um ihrer Forderung vom Abzug der Fremden aus dem eigenen Land Zulauf zu verschaffen. Gemeint sind hier natürlich die Römer in Judäa.
Takt für Takt schraubt sich der Bass in die Tiefe, immer schwerer drückt das imaginäre Kreuz auf unsere Schultern. Die Passion lässt die Zuhörer den Leidensweg Jesu miterleben. Der Bibeltext der Passionsgeschichte wird auf verschiedene Solisten und den Chor verteilt. Bis heute beliebt: Bachs Johannes- und Matthäuspassion. (AJ) ↩
Zeitzeugenschaft: Die plötzliche Gegenwart von schon lange verweht geglaubten Schreien, von einer unwahrscheinlichen und doch auf einmal möglich gewordenen Hoffnung auf einen Durchbruch der Menschlichkeit. Sie wird für mich – vielmehr als in allen noch so glühend komponierten Altarbildern – verblüffend fassbar in einem Olivenbaum, an dem ein wie auch immer geartetes tatsächliches Geschehen seinerzeit vielleicht vorbeizog. Und der noch immer lebt.
Lebendig und gegenwärtig ist auch, was Gardiner auf diesem Album gelingt. Vor fast dreißig Jahren, 1988, hat er schon einmal die „Matthäus-Passion“ eingespielt und dabei auf große Solisten gesetzt. Inzwischen ist er der Impresario einer durch Förderungen finanzierten Gesamtunternehmung, sind daher auch Chor und Orchester vom Cover gestrichen und künstlerisch seinem Willen widerspruchslos unterworfen. Junge Stimmen hoffen hier auf den Durchbruch und geben ihr Bestes. Nicht die Individualität ausgereifter Sänger steht hier im Vordergrund, sondern das Schalten und Walten von Gardiner. Gerade das aber überzeugt: Seine „Matthäus-Passion“ steht hörbar fest verwurzelt in der Tradition jahrzehntewährender Auseinandersetzung, sie hat den pathetischen Furor der alten Aufnahme, ihr noch ganz barock gefärbtes, auch stimmliches Donnern und Wolkendräuen hinter sich gelassen und tritt einen Schritt zurück. Nicht im Gewicht und der Ernsthaftigkeit, aber Gardiners Ansatz ist „klassischer“ geworden – lichter, klarer, präziser. Damit aber gibt er den Blick noch besser frei auf das Zeitlose an Bachs oratorischem Über-Kunstwerk: Wir sehen seine Linien und Verwerfungen, die uralte knorrige Kraft der Bibelverse und Choräle, aus der es schöpft, farblich reduziert und doch kontrastreich ausgeleuchtet, in einer heutigen, schlanken, asketischen Ästhetik.
© Sim Canetty-Clarke/intermusica.co.uk