Offener Brief

In einem Beitrag über das Verhältnis von Künstlern und Politik reagierte die Musikredakteurin der Wochenzeitung „Die Zeit“ auf die Thesen, die der Violoncellist Alban Gerhardt im Interview mit uns vertreten hatte. Nun antwortet er seinerseits darauf in einem Offenen Brief und bezieht noch einmal Stellung.

Liebe Frau Lemke-Matwey,

seit fast 30 Jahren spiele ich öffentlich mehr oder weniger erfolgreich auf kleinen sowie größeren Bühnen weltweit mein Cello, doch erst heute, nachdem ich vor zwei Wochen ein wenig Bach und drei Sätze über Europa auf einer Veranstaltung der „Pulse of Europe“ am Gendarmenmarkt von mir gegeben hatte, durfte ich beim Aufschlagen meiner absoluten Lieblingszeitung, der „Zeit“, einen Artikel lesen, in dem über mich geschrieben und sogar ein (12 Jahre altes) Foto abgedruckt wurde. Ich schätze Ihre Artikel generell sehr, habe vor vielen Jahren eine Podiumsdiskussion von Ihnen mit Christian Thielemann im Saal bewundert, und es tut mir leid, dass wir uns nie persönlich begegnet sind. Gerne hätte ich Ihnen auch zu Ihrem Artikel vom 6.4.2017 in der Ausgabe Nr. 15 der „Zeit“ mögliche Fragen im Vorfeld beantwortet, aber wahrscheinlich besitzen Sie weder meine E-Mail-Adresse noch meine Telefonnummer.

Sie schreiben völlig zurecht, dass es keines Mutes bedarf, sich für eine Sache wie „Pulse of Europe“ zu engagieren, und ich habe auch noch nie behauptet, mutig zu sein, auch wenn ich, von Natur aus eher vorsichtig und faul, all’ meinen Mut zusammennehmen musste, um vor so vielen Leuten am Gendarmenmarkt zu sprechen, was ich noch nie getan hatte. Es bedurfte noch viel weniger Mutes, für über ein Jahr syrische Flüchtlinge und eine junge Afghanin in unsere Wohnung aufzunehmen und ihnen bei Behördengängen und Integration behilflich zu sein – ich empfinde es eher als eine Pflicht in Zeiten wie diesen, mehr als nur passiver Betrachter zu sein.

Sie fragen, was mich getrieben hat, mich für „Pulse of Europe“ zu engagieren, und Sie würden mich gewiss auch fragen, warum einige Musiker am 5. April die Gruppe „Musicians4Europe“ gegründet und ein Manifest geschrieben haben, in welchem wir unsere Sorgen über diese beängstigenden Umwälzungen zum Ausdruck bringen. Einer der Hauptgründe ist tatsächlich, dass, sollte es zum Frexit und somit zum Zerfall der EU kommen, ich mir von meinen beiden Söhnen nicht vorwerfen lassen möchte, ich hätte in der schweigenden Mehrheit zugeschaut und aus Bequemlichkeit oder Vorsicht den Mund gehalten, um nicht zu nerven. Ist das neu, innovativ, revolutionär oder auch nur im Ansatz mutig? Nein, auf gar keinen Fall, behauptet aber auch keiner. Aber „wohlfeil. Und betulich.“ wie Sie schreiben? Dem hätte ich vor der US-Wahl und dem Brexit vielleicht zugestimmt, doch da wir in einer Zeit leben, in der alles Undenkbare plötzlich Realität und irreversibel werden zu können scheint, ist es leider notwendig geworden, selbst das Offensichtliche auszusprechen, so peinlich es sich auch anfühlen mag.

In dem von Ihnen angesprochenen Interview auf der Onlineplattform „niusic“ habe ich dem Journalisten auf die Frage, warum Musiker sich nicht gemeinsam äußern und ob wir nicht, da wir mit öffentlichen Geldern bezahlt werden, eine gesellschaftliche Verantwortung trügen, geantwortet, dass ich mich einerseits persönlich für viel zu unwichtig halte, um etwas Politisches anzustoßen, wir uns andererseits in erster Linie als Musiker fühlen und uns quasi hinter „Dienst nach Vorschrift“ verstecken würden. In unserem Arbeitsvertrag stünde eben „Musik machen“, gesellschaftliche Verantwortung müssten wir, ich eingeschlossen, erst noch erlernen. Sie nennen das in Ihrem Artikel „falsch, ja geradezu verräterisch … als müsste und könnte Beethoven und Bach je verbal nachgeholfen werden“. Ich finde es schon bemerkenswert, dass eine deutsche Musikjournalistin es als verräterisch empfindet, wenn Musiker, so sehr sie auch nerven mögen, sich öffentlich zu Demokratie und einem freien Europa bekennen, weil es ja ausreichte, Beethoven und Bach, denen ja nichts mehr hinzuzufügen ist, zu spielen. Gerne würde ich mich mit Ihnen persönlich austauschen, um mit Ihnen über Wege zu diskutieren, wie wir gemeinsam dem „.. Musikbetrieb so etwas wie eine neue Ethik …“ verpassen könnten, da Sie sehr richtig anmerken, Autokraten „… mit schweigender Toleranz zu begegnen ist sicher falsch.“ Den neuen, möglichen und unheiligen Allianzen von Trump über Erdogan, Orban, Kaczynski und LePen hin zu Putin können wir doch unmöglich in unserem nicht mehr ganz so weißen Elfenbeinturm zuschauen, und den öffentlichen Raum dürfen wir unter keinen Umständen nur dem sogenannten Wutbürger überlassen.

Alban Gerhardt

Die Redaktion von niusic hat sich entschlossen, nachdem der Artikel von Musikredakteurin Christine Lemke-Matwey in der aktuellen Ausgabe der Wochenzeitung „Die Zeit“ das von Christopher Warmuth für niusic geführte Interview zitierte, dem Violoncellisten Alban Gerhardt eine Möglichkeit zur Antwort einzuräumen. Wir sind der Auffassung, dass jegliche politische Äußerung von Künstlerinnen wünschenswert ist, wenn dieserdiese sich dazu entschließen. „Die Verneinung alles selbstverständlich zu Verneinenden (Krieg, Gewalt, Faschismus) wirkt rasch wohlfeil. Und betulich. Und nervt.“, schrieb Lemke-Matwey als eine Art Zwischenfazit im oben verlinkten Beitrag. Wir von niusic sind bisher nicht genervt von diesen so genannten Allgemeinplätzen. Wir waren es ja auch nicht, als Lemke-Matwey dem Chefdirigenten der Dresdener Staatskapelle Christian Thielemann in der „Die Zeit“ Platz für sein Plädoyer im Februar 2015 einräumte, in dem er sich für den Dialog mit der Bewegung „Pegida“ aussprach. Es gilt gleiches Recht für alle.

© Kaupo Kikkas


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