Man kann sich heute gar nicht mehr vorstellen, dass die „Historische Aufführungspraxis“ 122 einmal zu Publikumsprotesten führte. Was ist falsch daran, herausfinden zu wollen, wie es im 18. Jahrhundert geklungen hat? In den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts war das Spiel auf Darmsaiten, anstelle von modernem Stahl, ein Unding. Viele fanden das nicht zeitgemäß, zu spröde, zu trocken und zu ungewohnt klang das alles. Aber angeblich ist es ja mit vielen Dingen so: Das, was am Anfang irritiert, wird schnell Mode und alltäglich. Genau dieser Prozess stört Giovanni Antonini ein wenig. Auch wenn er selbst eine Mitschuld trägt. niusic hat ihn in Wien getroffen.
Darf man Bach auf dem Klavier spielen, obwohl es das Instrument im Barock noch nicht gab? Geht Haydn nur bei Kerzenschein? Der Streit um eine historisch korrekte Aufführungsweise oder -praxis begann schon bei Mendelssohn-Bartholdy, und noch heute wird geforscht, probiert und diskutiert, wie man auf historischen Instrumenten oder zumindest historisch informiert spielt. (AJ) ↩
niusic: Mit welchem Komponisten würden Sie gerne einen Tag verbringen?
Giovanni Antonini: Claudio Monteverdi. Mich würde interessieren, wie die Sänger damals seine Musik interpretiert haben, weil es vermutlich wenig mit dem gemein hat, wie wir es heute tun.
niusic: Das ist ja das altbekannte Problem der Historischen Aufführungspraxis. Man will „authentisch“ klingen, aber keiner kann mit Gewissheit sagen, wie es geklungen hat.
Antonini: Mit Sicherheit kann es niemand sagen. Wir Interpreten der Historischen Aufführungspraxis gehen ja auch alle unterschiedlich an die Sache heran. Es geht nicht um die Wahrheit der Interpretation, sondern darum, das Material überhaupt zu interpretieren. Wirklich sicher sind wir dabei nie.
niusic: Was würde passieren, wenn wir die Musik so hören würden, wie sie damals geklungen hat?
Antonini: Ich glaube, dass das heutige Konzertpublikum das nicht mögen würde, weil es so ungewohnt ist. Und die damaligen Besucher wären vermutlich verstört von unserer heutigen Aufführungspraxis.
niusic: Zum Beispiel von unserem Perfektionismus, oder? Wolfgang Amadeus Mozart hat ja teilweise erst in der Nacht vor der Aufführung die Noten handschriftlich fertig gestellt. Da waren sicher viele falsche Töne im Orchester dabei ...
Antonini: Unsere Tradition der Platten- und CD-Einspielungen hat alles verändert. Diese Selbstanalyse hat unser musikalisches Gehirn verändert. Es ist heute ein großes Problem, dass viele Zuhörer keine falschen Töne mehr akzeptieren. Aber es gibt auch häufig Konzertprogramme, die nach Robotermusik klingen. Zwar richtig, aber unfassbar unmusikalisch. Selbst in den großen Konzerthäusern.
Haydn, Haydn und nochmals: Haydn.
Antonini will alles auf einmal, nach und nach! Im Rahmen des Projekts Haydn 2032 führt er mit dem Kammerorchester Basel und Il Giardino Armonico, das er seiner Zeit selbst gründete, alle 107 Sinfonien von Joseph Haydn auf. Parallel tingelt Antonini durch viele europäische Konzerthäuser und führt das Gesamtwerk live auf. Begonnen hat er im Herbst 2014, das Projekt soll bis zum 300. Geburtstag von Haydn im Jahre 2032 vollendet sein. Aber das ist nur der Anfang, weil auch Diskografien nur der nächste Schritt in der musikalischen Argumentation sind.
niusic: Immerhin sind „Alte Musik“-Hörer*innen meist etwas alternativer. Das 68er-Publikum im Klassikbetrieb ...
Antonini: (lacht) Was? Auf keinen Fall. Nicht mehr. Die damaligen 68-er sind jetzt auch Spießer, arbeiten in Banken. In den Anfängen der Historischen Aufführungspraxis war es das „andere“ Publikum, aber mittlerweile sind wir auch Establishment. Manche von damals sind sogar die Spitze davon.
niusic: Das klingt etwas traurig. Fehlt Ihnen die Aura des radikalen Stürmers und Drängers?
Antonini: Absolut! Obwohl, die Radikalität oder den Wunsch danach haben wir nicht verloren, aber den damaligen Kampfgeist. Aber so ist der Lauf der Zeit.
niusic: Es gab ja in jeder Musikepoche das Radikale, das die Leute zum Protest aufgerufen hat. Was ist das Visionäre heute?
Antonini: Nichts.
niusic: Das ist nicht viel ...
Antonini: (lacht) Stimmt. Um heute wirklich „radikal“ zu sein, muss man vielleicht eher subtil arbeiten, in kleinen Details. Die Musiker, die heute revolutionär sein wollen, arbeiten mit Effekten, Kontrasten und Schnelligkeit. Aber eine vergleichbar aneckende Bewegung, wie wir sie damals vertreten haben, gibt es in der klassischen Musik nicht mehr. Ich sage das nicht, weil ich mich als Besonderheit inszenieren will, als wären wir damals die Letzten, die etwas Umstürzlerisches wollten. Aber ich sehe es heute einfach nicht.
niusic: Liegt die überdrehte Schnelligkeit der heutigen Alte-Musik-Aufnahmen daran, dass wir in einer Welt leben, auf der die nächste Platte ein schneller Hit werden muss, aber gleichzeitig nicht verstörend sein darf? Also setzen Interpreten auf Effekte, die blitzschnell verglimmen?
Antonini: Wir leben heute in einer digitalisierten Welt, soziale Medien, Informationsströme der Medien. Das gab es zur Zeit der Musik, mit der ich mich beschäftige, nicht. Da war jede Stadt eine eigene Welt. Das alles hatte etwas Unmittelbares. So muss es auch mit der Musik gewesen sein. Man konnte sie nicht konservieren. Wie man damals in Mailand gespielt hat, war etwas komplett anderes als in Neapel. Die CD-Einspielungen haben uns die Vielfältigkeit genommen.
niusic: Dann haben Sie ja selbst Schuld daran, dass es heute nicht mehr eine solch radikale Strömung wie die des historisch informierten Spiels gibt ...
Antonini: Warum? Ich habe die gleiche Herangehensweise wie damals auch ...
niusic: In gewisser Weise haben Sie damals die Büchse der Pandora geöffnet, indem Sie das Andere erst heraufbeschworen haben, um es dann mit all Ihren Kollegen auf Einspielungen zu konservieren. Im Konzert mag historisches Spiel ja Sinn machen, aber Historische Aufführungspraxis auf CD ist doch doppelt absurd.
Antonini: Ein wenig, ja. Das ist interessant, erst vor einigen Tagen hat mich ein Ensemblemitglied gefragt, warum ich eigentlich Aufnahmen mache. Und im Grunde tue ich es nur, weil ich ein Feedback will. Ich überprüfe damit, was beim Zuhörer ankommt und versuche dann besser zu verstehen, was ich tun muss, damit meine Intention rüberkommt.
niusic: Aber im Grunde mögen Sie das Festhalten nicht?
Antonini: Es hat sehr viel verändert, wie bereits gesagt. Und zwar eher zum Negativen. Früher lebte die Musik aus dem Moment heraus, und dann war sie verklungen. Sie war einfach nicht mehr da. Mit unseren Aufnahmen versuchen wir, die Musik die Zeit überleben zu lassen. Und vielleicht sogar, als Künstler unsere Zeit zu überdauern.
niusic: Das ist im positivsten Sinn egoistisch. Dagegen ist ja auch nichts einzuwenden. Aber durch die permanente Verfügbarkeit verleiten Sie auch dazu, dass die Leute sich an das Radikale gewöhnen und nicht mehr wirklich zuhören.
Antonini: Stimmt. Jetzt verstehe ich auch das mit der Büchse der Pandora. Ja, wir haben sie geöffnet.
niusic: Wie geht es weiter mit der klassischen Musik?
Antonini: Das kann ich nicht sagen. Aber wenn Sie mich aufgrund meiner langjährigen Erfahrung fragen, dann fühlt sich die jetzige Epoche nach einem Ende von irgendetwas an. Ich meine – schauen sie aus dem Fenster – wir beide sitzen hier gerade in Wien, in der europäisch-historischen Stadt überhaupt. Aber sie ist doch so verdammt klein! Vergleichen Sie das mal mit China. Wir nehmen uns etwas zu wichtig. Jeder schafft sich sein eigenes kleines Universum.
niusic: Herr Antonini, ich bin jung, das ist meine Zukunft. Geht es auch eine Spur positiver?
Antonini: (lacht) So war das nicht gemeint. Ich spüre, dass die gesamte westliche Kultur ein Problem hat. Auch da ist diese Endzeitstimmung. Aber es wird ja kein Ende geben. Wir müssen es einfach wieder neu erfinden. Dafür wird es jetzt wirklich Zeit.
© Kemal Mehmet