Von Carsten Hinrichs, 29.01.2017

Alternative zu Fakten?

Jetzt ist es sogar präsidenten-amtlich: Was nicht passt, wird passend gemacht. Kann uns nur noch die Musik, als Sprache jenseits aller Begriffe, dabei helfen, die alternativreiche Faktenlage zu ertragen?

Da hatte sich der neue Pressesprecher des Weißen Hauses ganz schön aus dem Fenster gelehnt: der Vereidigung von US-Präsident Donald Trump im Januar 2017 hätten angeblich so viele Zuschauer beigewohnt wie noch nie zuvor. Ernsthaft? Die von den Medien mit der Inauguration Obamas 2008 verglichenen Luftaufnahmen widerlegten das glatt. Doch überraschend vermochte die Beraterin des Präsidenten, Kellyanne Conway, den Spagat zwischen Sein und Schein zu schließen mit dem Hinweis, die Superlativ-Zahlen des Sprechers seien doch lediglich „alternative Fakten“ gewesen. Klappe, und Danke! Nun haben wir auch schon das „Unwort des Jahres 2017“ gefunden, bereits im Januar. Schärfer als mit dieser Formulierung könnte man den rhetorischen Kunstgriff nicht beschreiben, durch den eine neue Politikerriege ihre Sicht der Welt selbst dann zur Warheit erklärt, wenn alle Anzeichen der Vernunft dem widersprechen.

„Dreimal drei macht vier, widewidewitt, und drei macht neune. Ich mach` mir die Welt, widewidewie sie mir gefällt!“

Zu blöd, dass Demokratie so sehr auf dem Wort, dem Diskurs, den Überzeugungen und letzten Endes auch – ja: den Tatsachen beruht. Wie soll man da unterschiedlicher Meinungen sein und trotzdem die Wahrheit für sich gepachtet haben? Wir bräuchten eine Sprache, die ganz auf Begriffe verzichtet. Eine Sprache, die selbst Gegensätze wie „volle Feier“ – „leere Feier“, schwarz und weiß spannungsvoll und doch gleichberechtigt nebeneinander bestehen lassen kann. Kurz gesagt: eine Sprache wie die Musik! Nur sie kann uns in den Tagen der zu Kampfbegriffen zugespitzten Halbwahrheiten Trost spenden und uns helfen, die zweigleisige Faktenlage zu ertragen. Kein „die“ und „wir“ mehr, sondern ein Allemenschenwerdenbrüder-Jubel, den man bei Beethovens 9. Sinfonie sogar glauben möchte. Auf dem Flachbildschirm keine Breitenverblödung im Dschungelcamp, fein säuberlich getrennt von verkopfter Wissensnische. Dafür Unterhaltungswert und Gehirnkitzel Hand in Hand, zu hören bei Haydn.

Stellen wir uns vor, Trump hätte sich bei der Zeremonie seiner angriffslustigen Rede enthalten und stumm auf die Musik gesetzt, sagen wir: auf die Ouvertüre 174 „1812“ von Tschaikowski, niemand hätte sich wahrscheinlich beschwert. Schöne Musik! Und doch wäre alles gesagt gewesen, was in Worten für so viel Ärger gesorgt hat. Mit der Wahl Tschaikowskis (russischer Komponist!) hätte Trump den Flirt mit Putin fortgesetzt. Die Musik (Kanonen und Glocken spielen in dem Stück eine große Rolle) hätten seinem Bedürfnis nach Größe angenehm geschmeichelt. Und wenn man weiß, dass hier in Tönen geschildert wird, wie das Napoleonische Heer (auf heute gemünzt: das desorganisierte Pack der EU-Staaten) sich an den straffen Truppen unter Russlands Führung die Zähne ausbeißt, wenn man genießt, wie die bornierte Marseillaise im Schlachtenlärm an ihrem eigenen Rhythmus erstickt – dann hätte der Präsident allen Kontrahenten auch gleich gehörig den Marsch geblasen. Ohne Worte und anzukrittelnde „Fakten“. Fast überflüssig zu erwähnen, dass die siegreiche Hymne gegen Ende nur aus simplen Dreiklängen und lediglich zwei Harmonien besteht. Als hätte Tschaikowski versucht, Trumps leichtverständlichen, einprägsamen Sprachstil in Töne zu übersetzen.

  1. Eigentlich soll man sich seine Hits ja immer bis zum Schluss aufsparen. In Opernouvertüren wird diese Regel aber generell missachtet. Oft gibt es hier ein Medley der schönsten Melodien der folgenden Oper, manchmal aber auch neue musikalische Gedanken. Im Laufe der Zeit wurden Ouvertüren immer vielseitiger eingesetzt, außerdem durften manchmal, wie bei Tschaikowski, sogar Kanonen mitspielen! (MH)



Aber ganz so einfach ist es nicht. Denn Musik, wie außersprachlich und überirdisch sie auch sein mag, ist stets das Werk von Menschen, deren Fehler an ihr kleben bleiben wie die Erbsünde. Schon über die Frage, ob ein Komponist verkannt oder überschätzt ist, lässt sich ebenso trefflich und ohne Aussicht auf Lösung streiten, wie über die beste Einspielung dieser Sinfonie oder jener Klaviersonate. Ob Schubert trotz seiner nur einunddreißig Lebensjahre ein Spätwerk hinterlassen hat, ist nach aller Forschung bis heute nur Gegenstand von – Meinungen. Und würde tatsächlich mal ein Streichquartett zur Grippewelle nur zu dritt beim Konzert erscheinen und das dem Konzertveranstalter als „alternative Aufführungspraxis“ verkaufen wollen, es machte sich unweigerlich lächerlich.

Nein, Musik mag über Kategorien wie richtig oder falsch stehen, der Musiker, zumal als Mensch, tut es nicht. Das erfuhr auch Richard Strauss. Im Nationalsozialismus hatte er sich den Machthabern so lange an den Hals geworfen, bis er sich deren Kulturlosigkeit nicht mehr länger schönreden konnte, und sich dann grüblerisch und selbstmitleidig nach Garmisch-Partenkirchen zurückgezogen. Das Dritte Reich ging unter im Bombardement, und auch im Allgäu rollten die Panzer durch die Bergidylle, auf der Suche nach Wohnhäusern für die Offiziere. Und als sie vor Strauss‘ Anwesen standen, der neben den Parteifunktionären so oft in der Loge gesessen oder bei Empfängen angestoßen hatte, entzog er sich mit einem simplen Verweis auf die Musik jeder Bewertung: „I am the composer of the ‚Rosenkavalier‘ and ‚Salome‘“. Villa und alter Mann wurden verschont, und die Musik war tatsächlich einmal – wenn auch nur vorübergehend – eine Alternative zu den Fakten.


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