Bei einer Plastikallergie ist von diesem Opernbesuch abzuraten. Zur eigenen Sicherheit. Falls starke Probleme mit Fußschweiß vorliegen – ebenso. Zur Sicherheit aller anderen Besucher. Als ich im Foyer der Tischlerei ankomme, dem ausgegliederten Ort der Deutschen Oper Berlin für experimentelles Musiktheater, wundere ich mich zuerst über die vielen Beteiligten: ein Menschenhaufen von drei Dutzend steht herum, quasselt, lacht, debattiert. Ein Chor ist weder bei Hirsch noch bei Purcell vorgesehen – das müssen also Statisten sein. Nein. Es ist das Probenpublikum. Regisseur Martin G. Berger hat es bestellt, weil er die Besucher so stark in den Opernabend einbezieht, dass der Ablauf getestet werden muss. Eine freundliche Dame mit Headset öffnet die Tür ins Treppenhaus: „Bitte folgen Sie mir nach oben.“
Im ersten Stock angelangt, werden wir gebeten, uns unserer Schuhe zu entledigen, die akkurat in einem kleinen Schrank aufgereiht werden. „Bitte stellen Sie sich vor der Absperrung an“ – Clubbing-Atmosphäre im Opernhaus. Nach und nach wird eine Traube von fünf Besuchern durch eine schwere Eisentür in die Spielstätte geführt. Plastik, wirklich überall Plastik! Im industriellen viereckigen Raum ist ein überdimensionaler Würfel errichtet. Die Wände, der Boden und die Decke bestehen aus Luftpolsterfolie, nach der jedes Kind verrückt ist, weil sie so wunderbar ploppt, wenn man die Luftbläschen zerdrückt. Durch die Wand aus Vorhängen kann ich von allen Seiten in den geräumigen Innenraum blicken. Wir werden in diesen geführt, auf dem Boden liegend aufgereiht wie Zahnstocher, so, dass mein Kopf neben den Fußpaaren zweier anderer Menschen liegt. Bei jeder kleinsten Bewegung knirscht und knistert das Plastik unter mir. Das Ausziehen der Schuhe, die Durchsichtigkeit der Wände, die Empfindlichkeit des Materials suggerieren, dass ich mich hier in einem intimen Raum befinde, der beschützt werden will. Und tatsächlich – im Laufe des Abends stellt sich heraus, dass ich mich im Kopf der Protagonistin „Dido“ befinde. Das Publikum wird so Teil ihrer Innenwelt.
Die Musik beginnt, da es sich um eine Klavierhauptprobe handelt, ohne Orchester. „La Didone Abbandonata“, die verlassene Dido, ein Musiktheater von Michael Hirsch, das 2003 uraufgeführt wurde und etwas über zehn Minuten kurz ist. Hirsch entschied sich für ein altes Libretto 118 von Pietro Metastasio aus dem 18. Jahrhundert. Es ist die Essenz der Geschichte um Dido und Aeneas: Aeneas verlässt Dido, weil er das väterliche Großreich in Italien erweitern muss. Sie reagiert geschockt und bleibt allein zurück. Das Mythen-Kondensat von Hirsch wurde bereits von Musikern um Dirigent Titus Engel aufgenommen: Bedrohliches Donnern aus den Boxen, das von Streicherpizzicati 76 jähzornig zerschnitten wird, ehe Aeneas und Didos Stimmen sich ineinander verschränken, als seien sie eins. Es folgt ein Duett, bei dem die Gesprächsfetzen zunehmend eigenständiger werden. Es ist das Aneinander-Vorbeireden zweier Menschen par excellence.
Pizzicare bedeutet auf Deutsch Zwicken. Zum Glück geht´s nur um die Saiten, die beim Pizzicato mit den Fingern gezupft, statt mit dem Bogen gestrichen werden. Jazz-Kontrabassisten pizzen sich gern die Seele aus dem Leib. Aber auch in Oper und Konzert lockerte diese Technik schon immer die gestrichene Eintönigkeit auf. (AV) ↩
Bizets Carmen, Verdis La traviata. Die berühmten Opern nennen wir in einem Atemzug mit ihren Komponisten. Aber wer schrieb eigentlich das Textbuch, das sogenannte Libretto, dazu? Von den Librettisten sind heute nur wenige Große geläufig, wie zum Beispiel Mozarts Textdichter Lorenzo da Ponte. Ausnahme: das Multitalent Richard Wagner. Der dichtete die Texte zu seinen Opern selbst. (AJ) ↩
Parallel sehe ich an der Decke, noch immer gebettet auf Plastik wie ein Fisch kurz vor der Schlachtung, die Beamer-Projektion eines Filmes, der extra für die Produktion „Dido“ mit den beiden Hauptdarstellern gedreht wurde: Dido und Aeneas befinden sich in einer Altbauwohnung, bewegen ihre Lippen simultan zum Gesang der Solisten, die von zwei Ecken hinter den Vorhängen singen. Es entsteht ein betörender Raumklang. Unzählige Zwischentitel unterteilen den Film: Begegnung, Chaos, Liebeswahn, Kampfpause oder Todestrieb sind einige davon. Doch dann ändert sich die Perspektive. Sehe ich während des Kurzfilms beide Protagonisten von außen, blicke ich jetzt mit Didos Augen auf ihr Beziehungschaos. Denn das Musikdrama von Hirsch ist hier nur Vorgeschichte für den darauffolgenden Teil, die Oper „Dido and Aeneas“ von Henry Purcell – gleicher Stoff, doch eine weitaus längere Komposition. Schnitt. Neue Musik.
Nun bin ich, samt der anderen Zuschauer, im Kopf von Dido. Zu uns gesellen sich vier Handelnde, die Berger als Allegorien installiert, um seinen Fokus zu setzen: Um uns tanzen, ganz im Sinne von Sigmund Freud, die mächtigen Triebe herum. Wir sind die gaffende gesellschaftliche Norm. Was bleibt mir auch anderes übrig, als zuzusehen, selbst, wenn sich das schlechte Gewissen aufgrund des Voyerismus nicht ausschalten lässt.
Nicht selten wünsche ich mir, dass die in gold gekleideten weißhaarigen Triebkräfte weniger an Dido herumziehen, sie weniger herumschubsen und weniger beaufsichtigen. Sie wird von Ecke zu Ecke geschleift, gezerrt und permanent malträtiert. Durch unsere bloße Anwesenheit befeuern wir die inneren Kräfte, die für die moralisierte Gesellschaft eine perfekte Geschichte abliefern wollen. Dido und Aeneas müssen heiraten, beieinander bleiben und das auch noch möglichst in perfektem Glück. So will es Disney, so wollen wir es größtenteils noch immer.
Das, was Berger mit den zwei Vertonungen des selben Stoffes, dem Einsatz von Videoinstallationen und der Einbeziehung des Publikums erreicht, ist eine Wirkung, die harsch aber gewinnbringend in die Komfortzone der Besucher eingreift und zum Nachdenken anregt. Eins sei noch verraten: Es wird um uns gehen. Das ist sicher.
„Dido“ in der Tischlerei der Deutschen Oper Berlin:
Vorstellungen am 28. und 31.1., sowie am 6., 7., 9., 10. und 11.2.
Karten erhaltet ihr über die Website der Deutschen Oper.
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