Von Christopher Warmuth, 30.12.2016

Es lebe die Stille!

Silvester ist die krachlastigste Gemeinschaftsaktion, die unser Kalender zu bieten hat. Dabei ist der Abend im Grunde genau so still wie der Rest des Jahres auch. Man muss nur genau hinhören.

„Bis ich sterbe, wird es Klänge geben. Und diese werden meinen Tod überdauern. Man braucht keine Angst um die Zukunft der Musik zu haben.“

John Cage

Selbst wenn wir es wollten: Absolute Stille gibt es nicht. Das kann einen verrückt machen. Sperrt man sich in einen schallisolierten Raum, mit minimal reflektierenden Wänden, und konzentriert sich auf das Nichts, dann wird man etwas hören. So hatte es John Cage, einer der berühmtesten Avantgarde-Komponisten, in den 1940ern an der Harvard University gemacht. Das, was er wahrnahm, war unerhört:

„Ich hörte, dass Schweigen, dass Stille nicht die Abwesenheit von Geräuschen war, sondern das absichtslose Funktionieren meines Nervensystems und meines Blutkreislaufes. Ich entdeckte, dass die Stille nicht akustisch ist. Es ist eine Bewusstseinsveränderung, eine Wandlung. Dem habe ich meine Musik gewidmet. Meine Arbeit wurde zu einer Erkundung des Absichtslosen.“

Er hörte sein Blut fließen. Cage komponierte dann ein Stück, „4’33“, wobei der Name nicht dem Komponisten zu verdanken ist. David Tudor, Pianist der Uraufführung, würfelte die Länge der drei Sätze kurz bevor er die Bühne betrat: 33 Sekunden, 160 Sekunden, 120 Sekunden – macht 4’33. Absolute Stille. Nichts. Vermeintlich nichts. Damals gab es erhebliche Publikumsproteste, und auch heute sorgt das Stück für Kopfschütteln: „Das ist keine Musik. Das hätte ich auch komponieren können“. Beides kann zutreffen, nur ging es Cage um Anderes:
Jede Form des Seins hat auf einer übergeordneten Ebene die gleiche Wertigkeit. Es gibt keine Hierarchien im natürlichen Sinn, diese seien vom Menschen geschaffen. Es scheint ein Instinkt zu sein, einzelne Punkte oder Gegenstände in einen Wertezusammenhang einzuordnen. In der Musik werden Töne nie isoliert betrachtet, sie stehen in einem Zusammenhang, egal ob harmonisch oder dramaturgisch, vertikal oder horizontal. Cage ging davon aus, dass jeder Ton seine eigentliche Bedeutung in sich selbst trägt, egal ob er das Resultat eines Topfgescheppers oder einer Violine ist. Beides ist gleichwertig.



Ich muss zugeben, dass ich dieses Stück ziemlich doof fand. Ziemlich lange sogar. Erst als ich es einmal in einem Schauspielstück hörte, erschloss sich mir die vermeintlich verkopfte Aktion. Als Musikkritiker hört man sehr viele Aufführungen und zugegeben, ich erinnere mich nicht an alle Konzerte, in denen ich war. An Cages „4’33“ erinnere ich mich deutlich. Einerseits ragt es aus dem Aufführungsbrei vieler durchschnittlicher Konzerte heraus, weil es etwas ganz „Anderes“ ist. Andererseits dreht sich bei einer Aufführung das Zentrum des Interesses schlagartig weg von der Bühne hin zum Publikum, hin zu den Menschen, die neben einem sitzen. Sie werden zur Musik, jedes Geräusch, jedes Atmen, jeder Protesthuster wird intensiv wahrgenommen. Etwas Alltägliches, unser aller dauerhaft präsenten Geräusche, werden zu etwas Außergewöhnlichem. Dem würde Cage vermutlich widersprechen, weil etwas Außergewöhnliches bereits wieder eine Hierarchisierung ist. „4’33“ wird das verkraften. Es geht um das Publikum. Das ist das Herausragende.




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