Von Carsten Hinrichs, 04.12.2016

Wer’s glaubt, wird selig

Singet und seid froh, mahnt die Kanzlerin und erntet Fremdscham. Niemand denkt, dass Weihnachtslieder und Blockflöte gegen AfD und ISIS helfen, gegen Angst und Gewalt. Zumindest niemand, der sich allein auf seinen Verstand verlässt.

Etwas ratlos steht sie da, in all ihrer Machtfülle. Soeben hat Angela Merkel auf dem CDU-Parteitag in Mecklenburg-Vorpommern die Delegierten aufgefordert, einmal wieder Weihnachtslieder zu singen. Und erntet ungläubiges Staunen und Gekicher von den Parteigranden. Meint die das ernst?! „Aber wir sind die Partei mit dem ‚C‘ im Namen“, setzt sie nach und betont, man müsse doch nicht erst zu AfD und Pegida überlaufen, um christliche Weihnachtslieder zu singen. Auf den Weihnachtsfeiern der Kreisverbände laufe „nur so’n ‚Tamtamtam‘ und ‚Schneeglöckchen, Weißröckchen‘“. Da muss sie selbst schmunzeln über den unfreiwilligen Versprecher. Der Applaus bleibt lauwarm, bestenfalls um ihr den Gesichtsverlust zu ersparen.



Tja, gegen die AfD scheint kein Kraut gewachsen, aber ein Ros entsprungen? Meint jedenfalls die Kanzlerin. Wie sollen aufkopierte Liederzettel (wenn das die GEMA wüsste) und „einer, der noch Blockflöte spielen kann“ gegen die ganz realen Krisen helfen? Es klingt ein bisschen wie Vogel-Strauß-Politik. Pegida bleibt draußen, aber „ihr Kinderlein, kommet“. Nun ist eine Partei kein Stollen-Kränzchen, sondern ein Ort politischer Auseinandersetzungen mit harten Bandagen, da wirkt der Appell an gefühlige Liedpflege besonders peinlich. Aber offenbar entdeckt ein großer Teil der Bevölkerung, dass Ratio allein den Menschen nicht selig macht, vor allem im Angesicht von fanatischem Glauben und demagogisch geschürter Angst. Nichts, so sagt man, schalte den Verstand so sehr aus, wie Angst und Glaube. Was will ein vernünftiger, verständiger Mensch entgegensetzen, wenn Sachlichkeit, Logik und Vernunft unter Generalverdacht gestellt werden als ausgedientes Opium für die Abgehängten?

Zwischen Sauerkrautdampf, Glühwein und „Jingle Bells“ merken wir, wie wenig spirituelle Tiefe unserem Zusammenleben noch innewohnt.

Die destruktive Kraft der von Gott und der Welt verlassenen Krieger rührt daher, dass sie bereit sind, auf sich und diese ganze Existenz zu verzichten – um noch Hunderte mitzureißen. Diese Entschlossenheit trifft unsere gesättigte, diesseitige Gesellschaft ins Mark. Denn niemand würde in der kapitalistisch-christlichen Hemisphäre heute noch die ganze Welt an den Nagel hängen, um das Himmelreich zu erben. Niemand bei klarem Verstand jedenfalls. So ist zumindest nachvollziehbar, dass dieses Gefühl der Angreifbarkeit und Ohnmacht der Angst zuspielt und einer gefährlichen Nostalgie. Die aber ist nur die Gegenkraft zum Hass und doppelt seine destruktive Energie: Früher war nicht alles besser, nur anders. Und Menschen, die Kirchgänger anschreien und beschimpfen, leisten auf das beschworene christliche Abendland in Wahrheit ohnehin keinen Eid. Klingt halt gut, nach Werten, nach Fundament, nach Bollwerk.
Wahrscheinlich haben wir auch viel zu lange die Traditionen des Weihnachtsfestes wiedergekäut, während wir uns innerlich längst von seinen Inhalten verabschiedet hatten. So lassen uns die äußeren Krisen – Nationalismusschub, Rechtsruck in den Regierungen, Terrorangst und Schrei nach Ausgrenzung – gerade jetzt, bei dem Treiben zwischen Sauerkrautdampf, Glühwein und „Jingle Bells“, besonders schmerzlich spüren, wie wenig spirituelle Tiefe unserem Zusammenleben noch innewohnt. Dass keiner mehr Weihnachtslieder singt, ist nicht das Problem, sondern nur die Folge davon.

Um nicht falsch verstanden zu werden: Dies ist kein Aufruf für mehr Religiosität. Nach 250 Jahren Aufklärung, Rationalismus und Säkularisation wird uns das Nachstellen christlicher Weihnachtsbräuche nichts zurückbringen. Vielleicht aber lässt sich aus der Weihnachtsbotschaft etwas anderes gewinnen, auch für diesseitig orientierte Zeitgenossen. Ein neugeborenes Kind, kurz vor Beginn des Neuen Jahres, steht nicht für das Gestern, sondern für Zukunft und Chance.
Denn es gibt neben Angst und Glaube noch eine dritte Kraft, die den Verstand, na sagen wir: nicht ausschaltet, sondern überflügelt, die den Menschen in seinem Wesen erst vervollständigt. Das ist die Liebe. Keine Angst, gemeint sind weder süßliche Umarmungsorgien mit Tante Hilde noch gezwungene Rührseligkeit. Sondern jene visionäre Kraft, die wertschätzend annimmt, was ist, und Wachstum und Verbesserung im Blick hält. Auch Liebe übersteigt die nackte Existenz des Menschen, aber sie macht ihn nicht zornig und inhuman, sondern ermutigt ihn, sich über alle Beschränkungen von Unwahrscheinlichkeit und Aussichtslosigkeit hinwegzusetzen.

Die Sehnsucht, Ängste und Bedrohungen zum Guten wenden zu können. Gegen alle Wahrscheinlichkeit. Das wäre schon sehr viel.

Jedes Jahr im Advent bekommt alle Welt um mich rum plötzlich Lust auf Filme wie „Tatsächlich Liebe“. Den Menschen darin passieren lauter unwahrscheinliche, unvernünftige, aber herrliche Wendungen, weil sie sich was trauen, ohne Ansehen der eigenen Person: Ein Premierminister geht singend von Haus zu Haus auf der Suche nach seiner verlorenen Angestellten, ein Schriftsteller lernt Portugiesisch und reist seiner Haushaltshilfe hinterher, mit der er bis dahin noch kein verständliches Wort ausgetauscht hat. Und ein alternder Rockstar schafft es dank einer blödsinnigen Weihnachtswette nochmal in die Top Ten. Vor der gehypten Boy Band. Um dann doch mit seinem dicken Manager und Weggefährten zu zweit zu feiern, statt auf rauschender Promi-Party mit Elton John. Das ist natürlich alles Quatsch und ausgedacht, aber es findet viele verschiedene Formen für das immer Gleiche, nach dem sich der Mensch sehnt, nicht nur an Weihnachten. Dass es während all den Krisen eben doch auch immer Liebe gibt. Und dass er mit ihrer Hilfe und im Miteinander ganz real, hier auf Erden, alles, was seine Existenz bedrängt, beängstigt oder bedroht, überwinden und zum Guten wenden können wird.

Davon erzählen auch fast alle Weihnachtslieder – mal direkt, mal in Symbolen. Musik mit ihrer öffnenden Wirkung ermöglicht es, diese Botschaft nicht nur mit dem Verstand aufzunehmen, sondern auch mit unserem emotionalen Anteil zu erleben. Insofern steckt in dem ungelenken Vorschlag der Kanzlerin zumindest ein Körnchen Wahres. Wir können der Angst und der Gewalt, die dem Menschen seine Zukunft, seine Möglichkeiten und seine Existenz rauben wollen, in der sinnlichen Gegenwart von Musik zumindest Hoffnung, vielleicht auch Optimismus entgegensetzen. Denn Musik selbst steht mit für das Beste, was den Menschen ausmacht, und gibt ihm eine Ahnung davon, dass immer eine bessere Welt möglich ist, egal, was andere sagen. Für dieses Weihnachten wäre das schon sehr viel.




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