Unterzuckert

Wie die Polizei mitteilte, ist im Westerwald ein Fall von Freiheitsberaubung Minderjähriger für die Täterin im Rentenalter tödlich ausgegangen. Die Eltern zweier vermisster Kinder, die die Suche zum Tatort geführt hatte, alarmierten durch einen Anruf die Streife. Den eintreffenden Beamten bot sich ein grausiger Anblick: In einem freistehenden Steinofen des einsam gelegenen Hauses der Rentnerin fanden sich nur noch wenige menschliche Überreste, die Frau verbrannte offenbar vollständig bei lebendigem Leibe. Befragungen der Anwesenden offenbarten eine erschütternde Verkettung von Fehlverhalten. So gaben die an der Armutsgrenze lebenden Eltern der beiden Kinder, der alkoholkranke P. und die arbeitslose G., an, dass es zwischen der Mutter und den im Haus tobenden Kindern zum Streit gekommen sei, worauf die Mutter aus Überforderung die beiden, einen Jungen (10) und ein Mädchen (8), zum Erdbeersuchen in den umliegenden Wald geschickt habe. Der von einem Fest heimkehrende Vater sei wiederum mit der Mutter über ihre offensichtlich fahrlässig verletzte Aufsichtspflicht in heftigen Streit geraten und habe sich mit ihr gemeinsam auf die Suche begeben, die jedoch bis zum nächsten Tag andauerte.

Was genau sich am Haus der bereits vorbestraften Rentnerin abgespielt hat, lässt sich nur vermuten, da die Kinder noch unter Schock stehen und allem Anschein nach mangelernährt sind. Der Junge berichtete im Zustand der Unterzuckerung eine fantastisch ausgeschmückte Version der Geschehnisse der im Wald verbrachten Nacht, die die beiden nach Begegnungen mit dem Sandmännchen und allerlei Engeln zum Haus der Rentnerin geführt hätten. Dort hätten sie sich in ihrem akuten Hungerzustand sofort über die zum Auskühlen ausgebreiteten frischen Backwaren hergemacht. Die angesichts des Diebstahls zornig gewordene Rentnerin habe aber nicht die Polizei verständigt, sondern die Kinder eigenmächtig in Gewahrsam genommen und den widerspenstigen Jungen dazu sogar in einen Gitterverschlag gesperrt. Dabei dürfte sie allerdings deren Selbsterhaltungstrieb unterschätzt haben. Ein kurzer Moment der Unachtsamkeit beim Feuermachen, den die Kinder nutzten, um sich ihrer Peinigerin durch einen beherzten Schubs zu entledigen, wurde ihr zum Verhängnis. Gegen die Eltern der beiden werden Ermittlungen wegen Verletzung der Fürsorgepflicht aufgenommen.

Hänsel und Gretel, Illustration von Alexander Zick, 19. Jh

Zwei Kinder allein im Wald, eine alte Rentnerin in einem „Haus aus Süßigkeiten“? Natürlich, die dargestellte Oper ist „Hänsel und Gretel“ von Engelbert Humperdinck. Das Libretto der 1893 uraufgeführten romantischen Märchenoper nach den Gebrüdern Grimm schrieb Humperdincks Schwester Adelheid Wette – zunächst nur für eine Aufführung im häuslichen Rahmen. Der Erfolg beflügelte Komponist und Librettistin, und so kam es zur abendfüllenden Oper, die bis heute für viele wahrscheinlich die erste Begegnung mit dieser Kunstform gewesen sein dürfte. Das märchenhafte Sujet und die eingängigen, volksliedhaften Lieder wie „Ein Männlein steht im Walde“, die darin verarbeitet sind, sollten aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass Humperdinck sein Handwerk als Tonsetzer glänzend verstand. So gehörte der Wagner-Verehrer und -Dirigent zum inneren Zirkel in Bayreuth. Als beim „Parsifal“ die Musik für eine Umbaupause nicht reichte, beauftragte Wagner seinen Assistenten entnervt, die fehlenden „Meter“ der Partitur nachzukomponieren. Ob es da wohl Zufall sein kann, dass sich in „Hänsel und Gretel“ Grundmotive Wagnerscher Musikdramen, wie der Erlösungsgedanke oder sogar eine waschechte Persiflage auf den „Walkürenritt“, sozusagen im Taschenformat, wiederfinden? Wohl kaum. Die Ouvertüre mit ihrem geheimnisvollen Waldhorndunkel und die strahlende Pantomime der 14 Engel gehören bis heute zu den absoluten Publikumslieblingen im Opernfach.

Und das sagt unsere Juristin:

Für die Sachbeschädigung (§ 303 StGB) und den Diebstahl (§ 242 StGB), die Hänsel und Gretel durch das Naschen am Hexenhäuschen begangen haben, müssen sich die beiden Kinder nicht rechtfertigen, da sie noch keine 14 Jahre alt sind; sie gelten damit als schuldunfähig und können nicht bestraft werden, § 19 StGB.
Die Hexe allerdings müsste sich für ihre Taten vor einem Gericht verantworten: Sie hat Hänsel und Gretel so in ihrer Gewalt, dass sie nicht mehr vor ihr fliehen können. Dies stellt eindeutig eine Freiheitsberaubung dar, § 239 I StGB, ebenso wie das Einsperren von Hänsel in den Käfig. Wenn die Hexe Hänsel länger als eine Woche gefangen hält, erhöht sich das Strafmaß auf eine Freiheitsstrafe zwischen einem und zehn Jahren, § 239 III Nr. 1 StGB.
Für das Backen der Hexe im Zauberofen – an dieser Stelle bedürfte es wohl einer rechtsmedizinischen Untersuchung, um festzustellen, ob die Hexe tot oder nur verwandelt ist – müssen sich Hänsel und Gretel, ungeachtet ihres Alters, nicht vor einer Strafe fürchten: Sie sind durch Notwehr gerechtfertigt, § 32 StGB. Auch die Eltern von Hänsel und Gretel werden wohl mit dem Schreck davonkommen: Um den Tatbestand der „Verletzung der Fürsorgepflicht“ nach § 171 StGB zu erfüllen, müssten durch die Handlung der Mutter die Entwicklungsmöglichkeiten der Kinder in erheblichem Maße gefährdet worden sein. Durch das bloße Alleinlassen der Kinder zu Hause wird diese Schwelle jedoch nicht überschritten, ebenso nicht dadurch, dass die Mutter die Kinder in den Wald zum Erdbeerensammeln geschickt hat, zumal sie von der Hexe im Wald offenbar nichts ahnte. Eine gravierende Mangelernährung der Kinder über einen längeren Zeitraum würde deren körperliche Entwicklung allerdings erheblich gefährden, was eine Verletzung der Fürsorgepflicht durch Unterlassen darstellen könnte, wofür eine Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren vorgesehen ist. Eine solche Verletzung setzt aber auch voraus, dass die Eltern die Möglichkeit gehabt hätten, ihre Kinder besser zu ernähren, und sie dies vorsätzlich nicht getan haben. Angesichts der extremen Armut der Familie ist dies aber eher fraglich ...

(Jessica Krüger, Bucerius Law School Hamburg)