Von Carsten Hinrichs, 31.10.2016

Muttersprache: Barock

Cembalist Sébastien Daucé und sein Ensemble Correspondances tauchen die Weihnachts-Pastorale von Charpentier in italienisches Licht.

Es ist Sommer, als wir uns zum Interview treffen, und Sébastien Daucé hat eine mehrstündige Odyssee absolviert. Die Grande Nation wird gerade wieder von Streiks erschüttert, die ebenso fest zu ihrem republikanischen Selbstverständnis gehören, wie sie das öffentliche Leben fast gänzlich zum Erliegen bringen. Wer als Künstler im Sommer die Festivals bereist, muss Nerven wie Drahtseile mitbringen.
Doch der junge Cembalist und Ensembleleiter, soeben erst im Hotel eingecheckt, ist sofort wieder hochkonzentriert, als wir in der Lobby Platz genommen haben. Die Aufnahmen zu seinem neuen Album mit weihnachtlichem Repertoire von Marc-Antoine Charpentier sind abgeschlossen, im Zentrum steht die „Pastorale sur la naissance de Notre Seigneur Jesus Christ“ H. 483, eine Vertonung der Weihnachtsgeschichte. Die verworrene Quellenlage zum Stück ist hingegen alles andere als himmlisch.

Zahl eins, nimm drei

Genau darum reizt sie den ebenso leidenschaftlich forschenden wie musizierenden Sébastien Daucé. „Ich habe gerade im Flugzeug noch am Charpentier gearbeitet.“ Seine Aufnahme der Pastorale wird diejenige seines Vorbildes und Kollegen, des französischen Alte-Musik-Doyens William Christie, von 1981 in gewisser Weise ergänzen: „Es gibt in den Quellen vier Versionen: Christie hat sich für eine entschieden. Wir wollten ursprünglich eine andere machen, haben aber letztlich alle drei aufgenommen.“
Und er gerät ins Schwärmen. So erzählt er, dass Charpentier für Mademoiselle de Guise – die Fürstin, bei der er angestellt war – ab 1684 jedes Jahr seine Weihnachts-Pastorale [g*pastorale6] aufführte, aber für die Folgejahre immer einen neuen zweiten Teil komponierte. Im ersten Jahr thematisierte das Libretto 118 die Überwindung der Hölle durch das Licht Christi, im zweiten stand der Besuch der Hirten an der Krippe im Zentrum, und die Neuschöpfung des dritten Jahres handelt vom Dialog der Hirten auf dem Weg zurück. So kam es zu den verschiedenen Fassungen der Pastorale, die erst nach dem Tod der Fürstin in Umlauf kam. Eine Musik, die bisher nirgends auf CD zu hören war – und der Sébastien Daucé nicht widerstehen konnte. „Wir waren schneller fertig als geplant, und ich schaute in die Gesichter meiner versammelten Musiker und dachte, die Gelegenheit kommt so schnell nicht wieder.“

  1. Bizets „Carmen“, Verdis „La traviata“. Die berühmten Opern nennen wir in einem Atemzug mit ihren Komponisten. Aber wer schrieb eigentlich das Textbuch, das sogenannte Libretto, dazu? Von den Librettisten sind heute nur wenige Große geläufig, wie zum Beispiel Mozarts Textdichter Lorenzo da Ponte. Ausnahme: das Multitalent Richard Wagner. Der dichtete die Texte zu seinen Opern selbst. (AJ)

Im Rezitativ des Engels scheint die Zeit erst aus Klang geboren zu werden. Und die Spannung aus der Stille.

Der französische Barockkomponist hinterließ für seine Zeit einen außergewöhnlich großen Bestand an Weihnachtsliteratur, denn die wurde am Hof der Fürstin besonders innig gepflegt. Die von ungekünstelter Freude durchstrahlte Pastorale lässt sowohl alle Erden- wie formalen Bande hinter sich und ist ein fast frei am Text entlang aufgebautes Chorwerk. Auf Gattungszwänge brauchte Charpentier bei seiner Gönnerin keine Rücksicht zu nehmen. Hier schichten sich prachtvolle Klänge und gestaffelte Chorsätze, es gibt musikdramatische Echowirkungen in Flöten und Fernchor. Gleichfalls findet Charpentier aber auch Momente großer Innigkeit, etwa für den Engel der Verkündigung. In dessen Rezitativ 109 „Régnez, calme profond“ scheint die Zeit erst aus Klang geboren zu werden. Und die Spannung aus der Stille. Dieses Wort findet sich oft im Libretto und umrahmt bedeutungsvoll die eigentliche Geburt. Voran geht ihr ein Nachtstück, die „Simphonie de la nuit“, die sich mit ihren ruhig dahinströmenden Klangflächen neben die Schilderung des „Chaos“ von Jean-Féry Rebel und die Lichtwerdung in Haydns Oratorium 71 „Die Schöpfung“ einreihen kann: als gelungene Tondichtung für eigentlich nicht Darstellbares.

  1. Die Opern der Kirche. Hier geht es nicht unbedingt um sex and crime, sondern um geistliche Geschichten, und die Kostüme fehlen. Die Handlung wird von den Hauptfiguren, den Solisten und vom Chor musiziert. Gott frönen in der Musik, und das mit dramatischer Handlung. (CW)

  2. Diese vornehme Schwester des Rap ist eine Art melodisch und rhythmisch notierter Sprechgesang, begleitet entweder von einer kleinen Instrumentengruppe aus Cembalo und Bassinstrumenten (Secco-Rezitativ) oder dem Orchester (Accompagnato-Rezitativ). Anders als in der Arie, wo die Figuren ausgiebig in ihren Gefühlen schwelgen, treibt es die Handlung voran. (AJ)



Daucé präsentiert einen obertonreichen und beschwingten, eben italienischen Charpentier: Versailles vermochte diesen Klang nicht unter seine Staatsraison zu zwingen.

Ein Glück also, dass sich Charpentiers Musik vom staatstragenden Kunstanspruch des Sonnenkönigs unbeschwert entfalten konnte, nachdem er von einem Besuch bei Corelli in Rom zurückgekehrt war, den italienischen Stil noch im Ohr. Die kunstsinnige Fürstin bot ihm eine Heimat in ihrer weithin gerühmten Hofkapelle, und zwar für die kommenden achtzehn Jahre. Und damit auch eine ebenso inspirierende wie fruchtbare musikalische Gegenwelt. Daucé hat die italienischen Einflüsse bei Charpentier genau untersucht, seine Aufnahmen propagieren daher auch einen obertonreichen und beschwingten, eben italienischen Geist. Und sie atmen eine befreite Ursprünglichkeit, die nichts mit der majestätischen Wucht etwa eines Lully in seinen Grand Motets 67 gemein hat. Denn Versailles vermochte diese Werke nicht unter die Staatsraison zu zwingen: Kaum zu glauben, aber Charpentier, der als Schöpfer der „Eurovisionsfanfare“ zu den bekanntesten Musikern der Zeit Louis XIV. zählt, fand nie Anstellung am Hof des Königs.

  1. Viele Stimmen, viel Verwirrung?: Der Begriff beschreibt mehrstimmige, oft sehr komplexe Gesangsstücke durch die Jahrhunderte hinweg. Ob Machaut im Mittelalter oder Hindemith in der Moderne, sehr viele Komponisten nutzen und lieben die Motette. (MH)



Auch Sébastien Daucé zieht es immer wieder zu dieser Musik zurück wie zu einem Kraftquell. „Wir arbeiten seit Anbeginn des Ensembles mit denselben Sängern, für die neue Aufnahme konnten wir auf unseren Ergebnissen aufbauen, die wir an seinen ‚Litaneien‘ erarbeitet haben, und so den Charpentier der ‚Pastorale‘ noch besser treffen.“ Interessant ist für ihn dabei, dass die Sänger den historischen Interpreten ihrer Partien mehr und mehr auf die Spur kommen, sich mit ihnen identifizieren können, denn Charpentier schrieb sie diesen sozusagen in die Kehle. „Die Sängerbesetzung der Pastorale ist dieselbe wie bei den anderen von uns aufgenommenen Charpentier-Werken, sozusagen der echte ‚Guise-Sound‘, wie ihn auch das damalige Ensemble pflegte.“

Ohne Umweg ins Barock

Die neue Sonne Frankreichs

Einen Namen machten sich Sébastien Daucé und sein Ensemble Correspondances 2015 mit der Rekonstruktion eines versunkenen Kolosses. Das „Ballet de la nuit“ gilt ganz wortwörtlich als Sternstunde der französischen Barockmusik, bekam Louis XIV. als Tänzer der Sonne hier doch seinen epocheprägenden Namen verliehen – der Sonnenkönig. Für seine behutsame Neufassung auf Basis der rudimentären Stimmensätze wurde Daucé mit zahlreichen Preisen bedacht, zuletzt dem ECHO Klassik. Das „Ballet Royal“ nicht nur musikalisch wiederauferstehen zu lassen, sondern auch aufzuführen, wie es 2017 in Caen und anderen Konzertsälen in Europa geschieht, würde manchem französischen Ensembleleiter bereits als Lebenstraum reichen. Sébastien Daucé möchte die Aufmerksamkeit, die ihm sein derzeitiger Erfolg beschert, lieber auf unbekanntes Repertoire lenken, statt nur den Markt zu bedienen. „Andere versuchen am Beginn, wenn ihre Karriere durchstartet, schnell die Meisterwerke abzuhaken, damit möchte ich mich nicht jetzt schon erschöpfen. Es gibt für uns noch genügend Repertoire zu heben, und nun haben wir die Chance dazu. Dann kann ich – egal wie es später weitergeht mit uns – einmal in den Spiegel schauen und sagen: ‚Hey, du hast tatsächlich Moulinié, DuMont und Charpentier aufgenommen‘. Das wäre großartig.“


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Marc-Antoine Charpentier

Pastorale de Noel H. 483

Ensemble Correspondances, Sébastien Daucé

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