Von Anna Vogt, 10.10.2016

Das Ende des Schweigens

Das 3. Reich hat die Musikszene in Europa brutal minimiert und viele jüdische Komponisten ins Exil getrieben. Für die grandiosen Cellokonzerte dieser vergessenen Generation setzt sich der britische Cellist Raphael Wallfisch nun ein – und hat dafür auch sehr persönliche Gründe.

„Bitte Ruhe, CD-Aufnahme!“ ermahnt ein Schild am Künstlereingang des Berliner Konzerthauses die Ankommenden. Während sich draußen auf der großen Freitreppe zwei Schulklassen in der Spätsommersonne wärmen und von Techno-Klängen beschallen lassen und ein Straßenkünstler gedankenverloren Riesen-Luftblasen zieht, herrscht drinnen – im leicht abgedunkelten, kühlen Konzerthaussaal – höchste Konzentration. CD-Aufnahmen sind Schwerstarbeit, das wird mir nach ein paar Minuten klar, als jeder Take, den der Cellist Raphael Wallfisch mit dem Konzerthausorchester und dem australischen Dirigenten Nicholas Milton einspielt, nach nur Sekunden unterbrochen wird von einer Stimme aus dem Off, der Tonmeisterin, die heute hier das Sagen hat. Wie eine allmächtige Instanz korrigiert sie jede Intonationsunreinheit, ihr entgeht kein falsch gedruckter Ton in der Partitur, kein klappernder Einsatz. Langsam, quälend genau, entsteht so Sekunde für Sekunde eine neue CD.

Aufnahmen sind Schwerstarbeit: Langsam, quälend genau, entsteht Sekunde für Sekunde eine neue CD.

Ist es nicht schwierig, wirklich Musik zu machen, wenn man alle paar Momente unterbrochen wird und neu ansetzt? „Nein“, meint Raphael Wallfisch später, als wir uns beim Abendessen über dieses Projekt unterhalten: „Ich bin an solche Situationen sehr gewöhnt und mag den Druck bei Aufnahmesessions. Man muss dabei nicht nervös sein, weil man alles immer nochmal machen kann, wie bei einem Film“. Im Endeffekt zahle sich diese zähe Arbeit aus. Und Raphael weiß, wovon er spricht. Über 70 Aufnahmen hat er im Verlauf seiner langen Karriere bereits eingespielt. Und doch ist die neue, bei der ich heute reinschnuppern darf, für ihn etwas ganz Besonderes. Es ist der Versuch, ein wenig Gerechtigkeit in ein sehr ungerechtes Kapitel der Musikgeschichte zu bringen. Denn auf zwei CDs sollen gleich mehrere Cellokonzerte von vergessenen jüdischen Komponisten eine späte Anerkennung finden. Sie alle entkamen dem Horror des Holocaust und flohen ins Exil nach England oder Amerika, doch dort standen sie als Komponisten oft dennoch vor dem Karriere-Aus.

Flucht ins Karriere-Aus

Einer davon ist Berthold Goldschmidt, der bis 1935 in Berlin gelebt und hier auch eine vielversprechende Karriere gestartet hatte. Der ganze Aufnahme-Tag heute ist ausschließlich dem ausgedehnten ersten Satz seines Cellokonzerts von 1953 gewidmet. Geprobt wurde zuvor so gut wie nicht. „Wir haben heut Morgen um zehn Uhr zum ersten Mal zusammen dieses Konzert angespielt, um halb zwölf wurde bereits mitgeschnitten“, erzählt Raphael und lacht entspannt. So ist nun mal das Musik-Business: Zeit ist Geld, und die Uhr tickt erbarmungslos. Dabei ist dieses Konzert nicht nur hochemotional, sondern zum Teil sehr virtuos und wirklich vertrackt, wie das Ringen um Perfektion während der Aufnahme zeigt.
Die Qualitäten von Goldschmidts Komposition, ihre besondere Ausdruckskraft, bekomme ich erst am Ende der zerstückelten Aufnahmesession mit, als die verbleibende Zeit genutzt wird, um den zweiten Satz anzuspielen, nun in wohltuender Länge: Das Orchester beginnt mit kurzen, tastenden Schritten, die das Cello mit einsamen Pizzicati 76 bald übernimmt, während eine elegische Solo-Oboe darüber eine melancholische Melodie singt. Ein merkwürdiger, aber in seiner Spröde zugleich sehr sinnlicher Kontrast von hoher und tiefer Lage, weich und hart, schwer greifbar in seiner tonalen Vieldeutigkeit. Ein bisschen klingt es wie Schostakowitsch oder Britten. Frühmoderne im besten Sinne: Sie verschreckt nicht durch Radikalität und besitzt eine ganz eigene, etwas archaische Unmittelbarkeit. Später suche ich nach anderen Aufnahmen dieses Konzerts. Und finde auf Spotify nur eine einzige, von Yo-Yo Ma, auch so ein Weitsichtiger und Neugieriger in der Cello-Welt:

  1. „Pizzicare“ bedeutet auf Deutsch „Zwicken“. Zum Glück geht´s nur um die Saiten, die beim Pizzicato mit den Fingern gezupft, statt mit dem Bogen gestrichen werden. Jazz-Kontrabassisten pizzen sich gern die Seele aus dem Leib. Aber auch in Oper und Konzert lockerte diese Technik schon immer die gestrichene Eintönigkeit auf. (AV)



Gleich sechs solcher Konzerte aus der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat Wallfisch ausgegraben und erlöst sie nun von ihrem unfreiwilligen Schweigen. Einige Ersteinspielungen sind dabei. Und ich, die ich mich mit Cello-Repertoire eigentlich gut auszukennen meinte, habe außer Bloch keinen dieser Namen je gehört: Hans Gál? Berthold Goldschmidt? Karl Weigl? Robert Starer? Franz Reizenstein? Dabei verfügen Cellisten nun wirklich nicht über ein so großes Repertoire an guten Solokonzerten 181 , dass sie es sich leisten könnten, andere links liegen zu lassen. Warum also bekam man diese Konzerte bisher noch nie zu hören?, frage ich Raphael später. „Die Dirigenten haben oft einen sehr begrenzten musikalischen Horizont und keine Lust, neue Stücke zu lernen“, meint er dazu. Auch bei Intendanten muss er regelmäßig große Überzeugungsarbeit leisten, wenn er ein unbekanntes Cellokonzert spielen möchte. Aber manchmal rennt man auch offene Türen ein, wie im Falle des Berliner Konzerthaus-Chefs Sebastian Nordmann, der gleich Feuer und Flamme war für dieses Projekt. Für Raphael sind die Aufnahmen aber nicht nur wichtig, weil diese Musik sich ihren Platz auf Bühnen und CDs mehr als verdient hat, sondern auch, weil sie verbunden ist mit seiner Familiengeschichte.

  1. Ob mit Geige, Klavier oder Cello. Das Solokonzert ist die beliebteste Konzertform überhaupt. Hier kann ein Virtuose zeigen, was er kann, mit oder gegen das Orchester spielen und sich selbst inszenieren. Nein, im Ernst: Mit all den schwierigen, pathetischen, klassischen oder bahnbrechenden Konzerten lässt es sich viel Spaß haben! (MH)

Das Cello als Lebensretter

Raphael Wallifsch stammt aus einer jüdischen Musiker-Dynastie mit deutschen Wurzeln. Seine Großeltern starben im Holocaust, seine Mutter – Anita Lasker-Wallfisch – war selbst Cellistin und überlebte die Konzentrationslager in Auschwitz und Bergen-Belsen wohl nur, weil sie als Musikerin für das „Mädchenorchester“ in Auschwitz, das von einer Nichte Gustav Mahlers geleitet wurde, wertvoll war. Nach der Befreiung begann sie ein neues Leben in England, wo auch Raphael 1953 zur Welt kam. Im Hause Wallfisch wurde lange nicht über dieses Schicksal gesprochen, erinnert sich Raphael. Als Kind wunderte er sich, warum er keine Großeltern hatte und was die Nummer auf dem Unterarm der Mutter zu bedeuten hatte. Viel später erst hat Anita Lasker-Wallfisch ein bewegendes Buch über ihre Erfahrungen geschrieben: „Inherit The Truth“ – „Die Wahrheit erben“. Auch heute noch, mit über 90 Jahren, erzählt sie ihre Geschichte regelmäßig vor allem in Schulen und bei Gedenkveranstaltungen und versucht so, dem Vergessen entgegenzuwirken.

Vermächtnis für die Zukunft

Seine CDs sieht Raphael nun auch als eine Art Vermächtnis für nachfolgende Generationen. Damit will er etwas Bleibendes schaffen. Denn „als Cellist kannst du nicht viel Weltbewegendes tun“, meint er, „im Vergleich zur Arbeit eines Komponisten ist deine Kunst immer flüchtig. Doch mit diesem Projekt habe ich das Gefühl, nützlich zu sein, etwas an nachfolgende Cellisten zu vererben, die hoffentlich diese Aufnahmen hören und die Konzerte auch spielen werden.“
Auch dass die Werke in Berlin eingespielt werden, gehört für ihn zur Symbolkraft dieses Projekts: „Es hätte weniger Bedeutung, wenn wir das in England machen würden. Denn die Idee dahinter ist ja: Diese Musik hatte in Deutschland nie eine Chance, gehört zu werden, das wollen wir nun ändern.“ Mit allen Komponisten auf diesen CDs ist Raphael zudem direkt oder indirekt über seine Familie und Lehrer verbunden. Manche, wie Hans Gál, lernte er in England noch persönlich kennen, andere schrieben ihre Cellokonzerte für Wallfischs Lehrer Gregor Piatigorsky, bei dem er in Kalifornien studierte.

„Diese Art von Musik kann man nicht wirklich lernen, aber für mich fühlt sie sich sehr natürlich an.“

Sie alle waren Teil einer großen jüdischen Community, deren Tradition auch Raphaels Cellospiel verpflichtet ist: „Mein eigenes Spiel kommt von einer sehr alten jüdischen Tradition vor allem der Streichinstrumente, die Musiker wie Heifetz, Pjatigorsky, Milstein oder Feuermann prägten. Diese Tradition geht zurück bis in die jüdischen Schtetl in Osteuropa mit ihrer Klezmer-Musik. Und in manchen von den Cellokonzerten findet man deutliche Anklänge an diese jüdische Seele: in der Harmonik natürlich, in der bittersüßen Nostalgie, der Leidenschaft, manchmal auch im Protest oder der Resignation. Aber natürlich gibt es in dieser Musik auch Freude. Als Komponist von klassischer Musik muss man sehr vorsichtig damit sein, diese jüdischen Traditionen zu integrieren, sonst klingt es schnell wie eine Karikatur. Diese Art von Musik kann man als Musiker nicht wirklich ‚lernen‘, aber für mich fühlt sie sich sehr natürlich an.“

Als Raphael Wallfisch später in ein Taxi steigt, das teure italienische Cello – die Leihgabe eines Förderers – ist auf dem Rücksitz verstaut, hat er ein dickes Buch in der Hand: den Klavierauszug 256 zum Cellokonzert von Franz Reizenstein. Den will er im Hotel schon mal mit dem Dirigenten durchsprechen, seinem Wegbegleiter auch in der nächsten Etappe dieser musikalischen Reise, die ihn im Frühling wieder nach Berlin führen wird: einer Reise in die Vergangenheit, aus der ein Vermächtnis für die Zukunft entstehen soll.

  1. Partituren zeigen zwar alle Instrumentalstimmen einer Komposition parallel an, so verteilt sich das musikalische Geschehen aber auch quer über die Seite und ist schwer auf einen Blick zu erfassen. Sänger zum Beispiel studieren ihre Solopartien lieber mit einem Klavierauszug, der die Partitur auf die zwei Notenzeilen eines Tasteninstruments zusammenfasst und für Übersichtlichkeit sorgt. In den Probesälen von Opernhäusern kann man Pianisten finden, die sogar darin trainiert sind, eine Klavierfassung direkt aus der Partitur zu spielen, die nennt man dann Korrepetitoren. (CH)

2014 hat Raphael Wallfisch gemeinsam mit seinem Sohn Benjamin, einem angesehenen Dirigenten, und dem BBC National Orchestra of Wales bereits eine CD mit Werken von Ernest Bloch, Maurice Ravel und André Caplet eingespielt, die sich mit jüdischen Traditionen auseinandersetzen. Er widmete sie seiner Familie. Nun folgen auf einer ersten CD für das Label cpo die Cellokonzerte von Hans Gál und Mario Castelnuovo-Tedesco, sowie auf einer zweiten die Konzerte von Berthold Goldschmidt, Karl Weigl, Franz Reizenstein, Robert Starer und die Cello-Symphonie von Ernest Bloch. Begleitet wird er dabei von Nicholas Milton und dem Berliner Konzerthausorchester. Die CDs werden vermutlich im nächsten Jahr veröffentlicht.
Am 29. und 30. Januar 2017 wird Raphael Wallfisch zudem mit Hans Gáls Cellokonzert op. 67 beim Osnabrücker Symphonieorchester zu Gast sein.



© Benjamin Ealovega
© Andreas Knapp


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