Wie streng und unnachgiebig sind wir oft mit uns selbst! Deutschland ist ein Land der Perfektionisten. Ob man das Studium abgebrochen, die Doktorarbeit nie beendet oder mit einer Geschäftsidee pleite gegangen ist: In unserer Gesellschaft klebt ein solches „Scheitern“ als Makel im Lebenslauf und kratzt noch lange am eigenen Ego. Dabei ist es oft mutiger und konsequenter, etwas bewusst auch abzubrechen, wenn es nicht zu einem passt oder man einfach Lust hat, voller Enthusiasmus etwas Neues anzufangen. Von Franz Schubert könnte man sich in dieser Hinsicht eine Scheibe abschneiden. Wie hätte der mit 31 Jahren Verstorbene es auf fast 1000 Einträge im Deutsch-Verzeichnis gebracht, wenn er jedes Werk akribisch ausgearbeitet hätte? Stattdessen ließ er vieles unfertig, skizzierte Ideen, sprang von einem zum anderen Werk. Was natürlich dazu führte, dass diese unvollendeten Kompositionen zum größten Teil von der Konzertbühne verbannt wurden – ironischerweise bis auf Schuberts „Unvollendete“, deren zwei einsame Sätze so populär sind wie wohl kaum ein anderes Fragment.
Drei Gesprächskonzerte für eine unbekannte Schubert-Welt
Die „Unvollendete“ war zwar Namensimpuls für das Motto des diesjährigen crescendo-Musikfestivals an der Universität der Künste, doch im Laufe des zweiwöchigen Festivals erklingt sie nicht. Stattdessen stand das erste Festivalwochenende ganz im Zeichen von Schuberts unvollendeten Klaviersonaten: Innerhalb von 24 Stunden konnte man in drei intensiven Gesprächs-Konzerten diesen unbekannten Kosmos kennen lernen, interpretiert von den Professoren Björn Lehmann, Markus Groh und Gottlieb Wallisch und einigen ihrer Studenten. Es sind ganz unterschiedliche, zum Teil wunderschöne Werke, die der Musikwelt abhanden gekommen zu sein scheinen. Die Salzburger Musikwissenschaftlerin Andrea Lindmayr-Brandl erläuterte die verschiedenen Fragment-Typen bei Schubert, der manchmal mitten im Satz abbrach, einmal sogar ein „etc.“ ans Ende schrieb, als sei es ohnehin klar, wie es weitergeht. Bei anderen Sonaten sind Sätze oder Seiten verschwunden. Manchmal wurden sie von späteren Generationen um andere Sätze ergänzt oder Komponisten machten sich an eine Vervollständigung (nicht nur) im Stile Schuberts.
Björn Lehmann musizierte zum Beispiel das unvollständige Menuett aus der „Reliquien“-Sonate D 840 in drei verschiedenen Vervollständigungs-Varianten: von Paul Badura-Skoda, Ernst Krenek und dem UdK-Studenten Felix Mahr. Andere Kompositionsstudenten der Hochschule trugen zeitgenössische „Kommentare“ zu einzelnen der Schubert-Werken bei. Alexander Choebs „Resonanz 566“ (Kommentar zur Klaviersonate D 566) etwa fokussiert sich auf den Nachklang des Klaviers, den man normalerweise nur unbewusst wahrnimmt. Und Mathieu Stepecs „in Zeitlupe“ zu spielender Kommentar zur Sonate D 959 transformiert Elemente aus Schuberts Musik in eine Art hypnotisches, der Zeit enthobenes Fließen. So boten die Konzerte auch einen kompositorischen Dialog über zwei Jahrhunderte, den einige der anwesenden Uraufführungs-Komponisten überraschend klar und pragmatisch erläuterten. Gesprächskonzerte, erfrischend frei von Fachgeschwafel und Fakten-Overkill: In dieser Mischung stahlen Musik und Moderation einander nicht die Show, sondern führten zu einer erhellenden Begegnung mit einem nahezu unbekannten Schubert.
Im sonnendurchfluteten Foyer zum Joseph Joachim Konzertsaal kehrt nach dem Vormittags-Konzert entspannte Ruhe ein. Klavierprofessor Markus Groh, gemeinsam mit Konstantin Heidrich künstlerischer Leiter des Festivals, hat gerade selbst die kräftezehrende Schubert-Sonate D 567 gespielt, dessen fehlenden 3. Satz er mit Daniel Otts „TRIO-FRAGMENT“ ergänzte, und die Veranstaltung moderiert. Dass ihm das Festival ein Herzensprojekt und das Motto dahinter durchdacht ist, merkt man nicht nur an seinem vielfältigen persönlichen Engagement, sondern auch im Gespräch:
„Let´s try something else“. Interview mit Prof. Markus Groh
Selten sind Festival-Konzepte, die viele Beteiligte unter einen Hut bringen müssen, so stimmig. Das Thema des Festivals bietet sich für Crossover-Begegnungen aller Art geradezu an, ohne beliebig zu sein, denn Phänomene wie Vollendung und Fragment triggern etwas in wohl allen Disziplinen. Auch eine Begegnung mit den Bildenden Künsten hätte man sich daher gut in diesem Kontext vorstellen können. Vor allem aber erstaunt, wie eng und produktiv die unterschiedlichen Fachrichtungen hier miteinander zu arbeiten scheinen: Musikwissenschaft, Musiker, Komponisten. Eine solche funktionierende Interdisziplinarität ist leider bei Weitem keine Selbstverständlichkeit an den Hochschulen hierzulande, wo oft versteckte Rivalitäten und Eigenbrötlerei vorherrschen.
Auch dass hier Professoren und Studenten gemeinsam auf der Bühne stehen, sich als Kollegen mit einem gemeinsamen Ziel begegnen, ist eine Besonderheit im Betrieb, auch wenn hier wohl nur die vielversprechendsten Studenten ausgewählt wurden. Denn das Niveau ist bei den Schubert-Interpreten hoch, und sich mit den eigenen Professoren zu messen – das braucht viel Selbstvertrauen. Die UdK scheint einer dieser Orte zu sein, wo Kunst und Menschlichkeit auf eine gute Weise koexistieren. Diesem Engagement und dieser Atmosphäre hätte man am Eröffnungs-Wochendende gerade bei den Schubert-Konzerten mehr Publikum gewünscht, vor allem aus den eigenen Reihen der Studierenden, die sich erstaunlich rar machten. Mut zur Lücke – in Berlin gilt das leider oft auch für Konzertbesuche. Denn im blühenden Berliner Kulturbetrieb mit seinem riesigem Angebot gehen kleine Festivals wie das crescendo schnell unter. Unverdientermaßen.
Das crescendo-Festival der UdK Berlin
Noch bis 9. Juni sind an der UdK in Berlin (Bundesallee 1-12) u.a. Werkstattkonzerte, Meisterklassen, Kammerkonzerte, ein Musical und ein Happening zur Kunst der Fuge geplant. Nach einem Porträtkonzert zum 2017 unerwartet verstorbenen Komponisten Michael Hirsch am letzten Sonntag widmet sich am 28. und 29. Mai ein Symposium seinem Schaffen. Beim Projekt „crescendo immersiv!“ trifft dann am 31. Mai und 1. Juni im Medienhaus Kammermusik auf künstliche Intelligenz: Alexander Peterhasensel und das Trio Ambra verwandeln mit Hilfe des immersive.architecture.generator die Aula des Gebäudes in einen Erfahrungsraum mit eigenem (künstlich erzeugten) Willen. Neben dem regulären Programm gibt es auch mit „crescendino“ eine eigene Programmreihe für Kinder.
Fast alle Konzerte sind kostenlos, Platzkarten kann man unter crescendo@udk-berlin.de reservieren.
© Dorothea Tuch
© Dan Williams/ Kalare Studio
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