Von Malte Hemmerich, 27.06.2019

Schostakowitschianer!

Beißende Ironie und platter Systemjubel. Die Musik des Dimitri Schostakowitsch ist immer ein Politikum gewesen. Aber kann man seine Musik auch ohne diese Hintergründe verstehen? Und warum findet das einzige regelmäßige Festival mit seiner Musik ausgerechnet im sächsischen Gohrisch statt und das auch noch ohne wirkliches Budget?

Die Glocken am Ende übertönen alles. Und tatsächlich hält das Publikum im Dresdner Kulturpalast die Stille des Nachklangs nach der 11. Sinfonie von Dimitri Schostakowitsch einige Sekunden aus. Nachdem die Musiker der Sächsischen Staatskapelle Dresden und Sakari Oramo die Spannung absinken lassen, folgt der Applaus, der zum vorsichtigen Jubel wird. Die Leistung der Musiker – die kratzenden Geigen, punktgenauen Snaresalven und ineinander verzahnten Trompetenstimmen – ist grandios, das Stück martialisch, simpel, dann genial. Und immer furchtbar bedrückend.

„Der Werk legitimiert die Oktoberrevolution und dezidiert auch deren Recht, ja sogar die Pflicht zur Gewaltanwendung“,

schreibt der Musikwissenschaftler Wolfgang Mende im Programmheft dieses Abends. Strittige Statements und Deutungen zur Musik des Komponisten sind symptomatisch – und in einer Zeit, in der klassische Musik im weitesten Sinne um Berechtigung und auch gesellschaftliche Anerkennung kämpfen muss, ist es eine der Erklärungen, warum Schostakowitschs Musik so beliebt, grandios und wichtig ist. Sie ist immer irgendwie politisch und somit gesellschaftlich relevant. Jeder fühlt sich berufen, etwas an ihr und ihrem Schöpfer herumzudeuten, an dem, der Zeit seines Lebens politischen Extremen ausgesetzt war.

Auch deshalb feiert man hier bei den Internationalen Schostakowitsch-Tagen seit 10 Jahren seine Musik. Beim einzigen jährlich stattfindenden Schostakowitsch-Festival weltweit. „Schostakowitschs Musik ermöglicht einerseits jedem einen direkten emotionalen Zugang, funktioniert dann aber auf so vielen Ebenen, das ist einfach einzigartig. Sein Werk ist ein eigener Kosmos. Und es gibt Musik aus jedem Genre, in jeder Stimmung.“ Tobias Niederschlag ist der künstlerische Leiter der Schostakowitsch-Tage, und passenderweise bekommt er leuchtende Augen, wenn er von dessen Musik spricht. Nur das Sonderkonzert findet in der Musikmetropole Dresden statt, danach geht es in die Provinz, genauer gesagt in eine Konzertscheune im Kurort Gohrisch nahe der tschechischen Grenze. Die gehört der Agrargenossenschaft und beherbergt den Rest des Jahres Stroh und Heuballen.

Die Konzertscheune beherbergt sonst Stroh und Heuballen

Das 2000 Seelen-Dörfchen ist auf symphatische Art stolz auf das, was hier auf die Beine gestellt wird. Ehrenamtlich sind sowohl die Schnittchenschmierer im Zelt des Künstlercaterings wie auch das Einweiserpersonal, das Autos über Wege und Wiesen lotst. Alles wirkt liebevoll und handgemacht und aufs Wesentliche reduziert. Einzig das Festivalhotel im einige Kilometer entfernten Bad Schandau, in dem man nach den Abendkonzerten einen teuren Cocktail trinken und Künstlergesprächen lauschen kann, bricht mit dieser Atmosphäre ein wenig.

Der große Schostakowitsch selbst kam archaischer in Gohrisch unter. 1960 wurde er von der DDR-Regierung ins hiesige Gästehaus eingeladen, noch heute steht der graue Komplex, ein paar Meter den Papstberg hinauf. Schostakowitsch komponierte hier quasi sein Leben, sein Requiem, sein 8. Streichquartett am Weiher unter einer Buche, die die Bank des Komponisten mittlerweile schicksalhaft zertrümmert hat.

Erklingt das Stück nun ein paar Meter weiter in der entfremdeten Scheune, ist das natürlich ein besonderer Moment. Nicht nur, weil das Quatuor Danel aus Belgien mit unglaublichen Gesten und wilden Ausbrüchen musiziert, sondern weil Schostakowitschs Quartett so gedankenehrlich und niederschmetternd scheint, trotz idyllischer gohrischer Entstehungsumgebung, die einen als Zuhörer in den Pausen immer in ein beruhigendes Lebensgleichgewicht setzt. Und auch wenn in vielen Podiumsdiskussionen, Texten und Reden von einer Trennung von Politik und Musik in Bezug auf Schostakowitsch geträumt wird, ist es doch nicht wirklich möglich, das ist am Ende unausgesprochener Konsens.



Euphorische Künstler loben nach dem Konzert vor allem das kluge Publikum und erwähnen oft, dass hier alle Punkte, die ein gutes Festival ausmachen, zusammen kämen: Aufmerksamkeit, Einsatz und Organisation. Tobias Niederschlag selbst spricht dagegen von einem Anti-Festival: „Weil es wirklich nur um die Inhalte geht, es gibt kein drumherum.“ Das beginnt schon bei der Programmgestaltung: „Die ist relativ kompromisslos", erzählt er. „Wir fragen Künstler zu dem von uns gestalteten Programm an.“ Tourneeabende haben keine Chance, das ist tatsächlich fast ein Alleinstellungsmerkmal.

Ansonsten zeigt Gohrisch alle Anzeichen eines wunderbaren Liebhaber- und auch etwas eines Insider-Festivals. Gibt es Schostakowitschianer? Wenn, dann hier: Vom Sikorksi-Verleger über die russische Notenarchivarin bis zur Schostakowitsch-Witwe Irina, die oft den Weg auf sich nimmt, ist das Publikum ungeheuer kundig und interessiert, im Konzert still wie die Felsen in der sächsischen Schweiz.

Schostakowitsch-Preis 2019

Die Konzerte selbst sind dann divers in den Genres, in sich meist klassisch programmiert und oft eine Idee zu lang. Die Fahrt zur Scheune soll sich ja auch lohnen. Die Akustik ist im Parkett erstaunlich gut, hinten an den Seiten wird es dumpfer. Neben Streichquartett-Abenden steht mit der Jazz-Suite auch Unterhaltungsmusik auf dem Plan. Das einzige wirkliche Risiko im Programm ist das Abschlusskonzert mit seinen Jazz-Improvisationen über das 8. Quartett am Ende. Sonst wird Schostakowitsch logisch mit Prokofjew, Strawinski, Weinberg und Glasunow gekoppelt. Der Pianist Daniel Ciobanu darf eine Uraufführung zu Gehör bringen. Wie eine Mischung aus Debussy und Chopin flirrt „Im Wald“ ein Machwerk des jugendlichen Dimitri vorbei. Wenn man es so sehen will, ist das der einzig sicher unironische Schostakowitsch-Musikmoment in den vier Tagen.

Zum zehnten Geburtstag stehen den Schostakowitsch-Tagen nun jährlich feste Fördergelder in Aussicht: mehr Raum für Begleitprogramme, Erweiterung des Zeitraums, verbesserte Scheunenbedingungen. Vielleicht ist ja dann auch mehr Experiment und zum Beispiel mal ein Ortswechsel drin. Die musikalische Qualität der Künstler indes hat nie unter der klammen finanziellen Situation des Festivals gelitten: Gidon Kremer, Isang Enders, Igor Levit und die Sächsische Staatskapelle – sie alle spielen und spielten hier stets ohne Gage, für 10 Euro Frackprämie. Und das ist – wie man es auch dreht und wendet – ein starkes Statement und ein Ritterschlag für die Musik des Dimitri Schostakowitsch.

© Matthias Creutziger
© Malte Hemmerich


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