Von Malte Hemmerich, 15.08.2016

Tief im Westen

Noch ein Konzertsaal im Ruhrgebiet! Die Bochumer Symphoniker eröffnen im Oktober ihren eigenen Saal, das Anneliese Brost Musikforum Ruhr. Ein Rundgang über die Baustelle mit Projektinitiator, Dirigent und Neuintendant Steven Sloane zeigt: Essen und Dortmund bekommen Konkurrenz – auf eine ganz eigene Art.

„Jeden Tag gehen wir hier vorbei, und es tut sich nichts!“. Der aufgebrachte ältere Herr dreht sich, nach Bestätigung suchend, zu seinem Begleiter um. „Wie soll das denn noch rechtzeitig fertig werden?“, fragt der. Steven Sloane, Dirigent und designierter Intendant, knöpft die Lederjacke zu und blickt auf seine Apple Watch: „Nur keine Panik, wir sind voll im Zeitplan!“ Grummelnd , aber fürs erste gezähmt, ziehen die Rentner weiter, und Sloane wendet sich wieder dem Bauzaun zu. Seine amerikanische Coolness hat sich der Generalmusikdirektor stets bewahrt im „17-jährigen Abenteuer“, wie er es nennt, dieses Ringen um eine Heimat für sein Orchester, die Bochumer Symphoniker. Standortstudien, Bürgerinitiativen und allerlei Hindernisse, alles überwunden. Ebenso die Kritik vom Bund der Steuerzahler, dass die klamme Stadt Bochum so ein Projekt stemme. „Wir haben klar gemacht, dass das Orchester nur eine Zukunft hat, wenn es einen festen Spielort gibt!“, erklärt Sloane. Da steht es nun am Bochumer Marienplatz, das Musikzentrum.

Von außen versprüht das Gebäude noch wenig Charme. Schlichte Fassade, fast wie ein großer Bürokoloss, stände da nicht noch eine Kirche mittendrin. Die Arbeiten auf der Baustelle, derzeit vor allem der Innenausbau, sind im Endspurt. Abnahme des Baus ist Ende August, Eröffnung im Oktober. Ein bisschen Vorstellungsvermögen ist noch gefragt, vieles abgeklebt und kahl. „Nun spüren wir die große Verantwortung, die wir mit dem neuen Haus haben, aber auch die vielen Möglichkeiten“, schwärmt Sloane, der als einziger keinen Schutzhelm trägt, im zweimal teilbaren Saal, der funktional und schlicht anmutet.

Das Herzstück des Musikzentrums, das neben einer Heimat für die Bochumer Symphoniker auch für viele Education-Projekte, Musikschulen und Chöre aus der Region Platz bieten wird, ist sicherlich das Foyer, welches das Kirchenschiff der alten, restaurierten Marienkirche bildet. Das ist ein wahrer Augenöffner, die Kirchenportale und Bögen sind erhalten, auf der Empore hängt eine riesige Glocke, der Pausengong. „Stellen Sie sich vor“, ruft Sloane über den Lärm der Arbeiter hinweg, die gerade die Kassentheke zimmern, „das ist der erste Eindruck, den ein Konzertbesucher bekommt, wenn er aus seiner säkularen in unsere spirituelle Welt tritt!“

Steven Sloane hat in seiner Zeit als musikalischer Leiter die Bochumer Symphoniker in der Region immer weiter etabliert. Jetzt merkt man dem umtriebigen Dirigenten, der außer in Bochum auch in Berlin lebt und dort eine Dirigierprofessur hat, die Freude auf die erste Spielzeit im eigenen Haus in jedem Moment an. Er selbst scheint an allen Details der Baupläne beteiligt, fragt hier, ob das Licht noch dimmbar sei und dort, warum Fliesen verlegt wurden und lobt die Zusammenarbeit mit Akustikern und Architekten. Durch das Zwischenfoyer, das dank großer Lichtschächte von Tageslicht durchflutet wird, läuft er mit leuchtenden Augen vor in den großen Saal.

Fast tausend Personen finden hier Platz, helles Holz dominiert, und alles ist bodenständig eingerichtet, Funktionalität schlägt Design, oft gehen beide aber auch Hand in Hand. So sieht der große Saal modern aus, verliert aber dadurch nicht an Wärme. Dafür scheint jeder Sitz, noch unter Schutzfolie, im Schuhkastensystem unheimlich nah an der Bühne. „Ich wollte eine Aktiv-Beziehung, eine Umarmung“, sagt Sloane ergriffen, und „bei der ersten Akustikprobe haben wir geweint!“ Teilweise hätten die Bochumer Musiker, die bisher in Schauspielhaus und Audimax herumtingelten, zum ersten Mal ihre Orchesterpartner richtig gut gehört.
Doch bei all den verständlichen Rührseligkeiten hat Sloane gleichzeitig eine realistische künstlerische Vision für sein Haus. Auf dem Weg in den Backstagebereich über Planen und durch Absperrband erklärt er: „Es wird hier weder Gastspielbetrieb geben noch Name-Dropping. Erstens dürfen wir, da EU-Fördergelder im Projekt stecken, nicht kommerziell vermieten, zweitens gibt es mit Dortmund und Essen zwei exzellente Häuser in der Nähe.“
Das Musikzentrum, das mit seinen Baukosten in Höhe von 37 statt geplanten 33 Millionen in finanzieller Hinsicht recht gut abschneidet in der Welt der deutschen Großbauprojekte, sei dagegen explizit für die Bochumer- und Ruhrgebietsmusikszene entstanden: Die Musikschule und Chöre aus der Region können Räume nutzen, es gibt Kooperationen mit dem Chorwerk Ruhr, dem Klavierfestival und der Ruhrtriennale.

„Ich bin gegen jede Ghettoisierung von Kunst!“

Steven Sloane

Das Gebäude soll leben, Offenheit ist ein Bauprinzip. Deshalb sind vor dem Greenroom hinter der Bühne große Glasscheiben, von den Fluren oben können die Besucher das Treiben hinter der Bühne beobachten. Wo im Moment noch das Radio der Bauarbeiter dröhnt, die die Stimmzimmer mit Schallschutz verkleiden, soll sich Sloanes Vision von einem ganzheitlich musikdurchfluteten Gebäudekomplex in der kommenden Spielzeit erfüllen: Da werden in einer Woche unter dem Motto „The Fabulous Fifties“ Bernd Alois Zimmermann, John Cage und Bruno Maderna erklingen, während im kleinen Saal Retrorock stattfindet, dann eine Modenschau und ein Essen im Stile der 1950er. Auch Salonkonzerte und Elektro nachts im Kirchenfoyer sind eine interessante Vorstellung. Neue Musik soll immer noch selbstverständlich im normalen Programm stehen, denn Sloane ist „gegen die Ghettoisierung von Kunst.“ Außerdem haben sich die Symphoniker in diesem Bereich schon einen Ruf erspielt (wie hier in einer Rilke-Vertonung von Wolfgang Rihm mit Christoph Prégardien):



Doch auch die großen Klassiker kommen vor, das Orchester muss sich an den Klang gewöhnen und es schaffen, in den mannigfachen Abovarianten – es gibt 16 Kombinationen! – auch Karten zu verkaufen. Ein neues Haus muss sich etablieren. Steven Sloane streift sich die Plastiktüten von den Cowboystiefeln: „Wir haben trotz all der widrigen Umstände die letzten Jahre ein so treues Publikum gehabt, und die Abos schießen durch die Decke!“

Es spricht also vieles dafür, dass in Bochum, einer der schönsten und sympatischsten Städte des Ruhrgebiets, ein feines klassisches Musikleben endlich eine feste Heimat bekommt. Nicht glamourös, aber einzigartig, und abseits der großen Prestigeprojekte auf die typisch ehrliche Ruhrgebietsart. Denn wie sang schon Herbert Grönemeyer, der im kommenden Jahr übrigens ein Gastdirigat im Musikzentrum übernimmt, über seine Heimatstadt: Hier ist es besser, viel besser als man glaubt.

Das Eröffnungskonzert

28.10.16 Eröffnungskonzert:
20 Uhr, Großer Saal

Stefan Heucke:
„Baruch ata Adonaj“ (Gesegnet seist du, Herr)
Gustav Mahler:
Sinfonie Nr. 1 D-Dur „Titan“

Martijn Cornet, Bariton
Sängerknaben der Chorakademie Dortmund
Chorwerk Ruhr
Philharmonischer Chor Bochum
Schüler/innen der Musikschule Bochum
Bochumer Symphoniker
Steven Sloane, Dirigent



© Lutz Leitmann
© Yuri Orgakov


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