Mendelssohn hat viel von Bach gelernt, und überall in seinen Kompositionen kann man das sehen. Wenn über Mendelssohn geschrieben wird, ist das mittlerweile schon eine Floskel, mit der nichts Neues mehr gesagt ist. In der musikalischen Praxis dafür noch nicht ganz so sehr.
Denn die Zusammenstellung auf der CD Felix Mendelssohn Bartholdy. Motets & Piano Trio, die der Flemish Radio Choir unter Hervé Niquet und das Klaviertrio aus Pekka Kuusisto, Pieter Wispelwey und Alasdair Beatson gewählt – ja man kann sogar sagen „gewagt“ – haben, provoziert den Hörer. Der Titel sagt es schon: Sechs unterschiedlich lange Nummern geistlicher Chormusik werden mit dem Trio in c-Moll MWV Q 33 und – als kleiner Zugabe – dem Adagio aus der Cello-Sonate D-Dur MWV Q 32 auf einen Tonträger gepfercht.
Das wirkt von außen betrachtet erst einmal gezwungen. Weltlich und geistlich, instrumental und vokal, gegensätzlicher können Repertoires eigentlich nicht sein. Und auch die Spielräume und ihre Akustik wechseln drastisch: Weiter, halliger Kirchensound geht nahtlos in nahen, knackigen Kammermusikklang über. Das einheitliche Hörerlebnis, das man sonst von CDs kennt, gibt es hier nicht, man muss zwangsläufig im Kopf umschalten, als öffnete man eine Kirchenpforte und stünde plötzlich im eigenen Wohnzimmer. Das reibt sich, und das ist natürlich die Idee dahinter, denn nach dieser Art von erzwungen bewusstem Hören soll man verstehen, dass alles über den gemeinsamen Nenner Mendelssohn zusammenhängt und plötzlich doch Sinn ergibt. Das ist eine Gratwanderung, die schief gehen kann, und dass sie es nicht tut, spricht für die Künstler.
In der ersten Motette 67 , dem 2. Psalm, lässt der Flemish Radio Choir den ersten, kriegerisch angehauchten Psalmteil aufgewühlt anschwellen, kontinuierlich und präzise kalkuliert, um sich dann liebevoll zart in das Bekenntnis „Aber ich habe meinen König eingesetzt“ zurückzuziehen, das wiederum in ein würdevoll breites „Du bist mein Sohn“ mündet. Eine herrliche Wendung, wobei: Sicher, der militant-religiöse Text hier und in anderen Psalmen ist heute nicht mehr zeitgemäß. Er wirkt wie eine Oratorienszene, mit der sich der westeuropäische Durchschnittshörer nur bedingt identifizieren kann.
Viele Stimmen, viel Verwirrung?: Der Begriff beschreibt mehrstimmige, oft sehr komplexe Gesangsstücke durch die Jahrhunderte hinweg. Ob Machaut im Mittelalter oder Hindemith in der Moderne, sehr viele Komponisten nutzen und lieben die Motette. (MH) ↩
Der zweite Psalm „Warum toben die Heiden“
Deshalb braucht es die Gegenüberstellung mit dem Trio, wie ein Rückzug in einen anderen Raum, zum Nachdenken. Den Zusammenhang zu halten, ist eine Herausforderung, aber Kuusisto, Wispelwey und Beatson gelingt der Transfer. Sie arbeiten nicht mit dem musikalischen Seziermesser, akzentuieren nicht jede Nuance im kultivierten Zusammenspiel feiner Herrschaften, sondern verlassen sich auf die treibende Energie der Stimmen. Klavier, Cello und Violine bleiben unablässig stürmisch und vor allem individuell. Mal erdrückt das Cello die Oberstimmen, mal schneidet die Violine scharf durch das Zusammenspiel, mal setzt sich das Klavier kurzerhand über beide Streicher hinweg.
Doch dabei gibt es klare Zielpunkte: den zweiten Satz Andante espressivo etwa, und natürlich den Choral-Teil im Finale, wo unmittelbare Innerlichkeit und – in der Reprise – majestätische Würde gesucht und gefunden werden, wie sie der Chor in den Motetten so glanzvoll herausarbeitet.
Weil das Trio überwältigend zum Schluss geführt wird, versteht man auch, warum danach noch einmal Motetten kommen dürfen. Erstens: Dem ist in diesem Raum nichts hinzuzufügen, da hilft nur ein Szenenwechsel. Zweitens: Man hört sie jetzt wieder anders, genau wie vorher das Trio. Das letzte Chorstück „Jauchzet dem Herrn“ wirkt herrlich befreit und gelöst. Diese Stimmung nehmen wir Hörer mit – quasi nach Hause – in das abschließende Adagio aus der Cellosonate, wo wir noch einmal eingeladen werden, über das Gehörte zu meditieren.
Und dann verstehen wir: Bei Schubert erlauben uns seine Lieder, sich der Tiefe seiner Sonaten und ihrer Romantik anzunähern. Bei Mendelssohn schließen uns die Motetten und alles, was er von Bach gelernt hat, einen Stimmungsraum auf, in dem das Trio (und manch anderes der Kammermusik) gehört werden kann. Es übersetzt die im modernen, aufgeklärten Westeuropa für viele vielleicht nicht ansprechende christlich-religiöse Botschaft der Psalmen ins Wortlose und feiert gegenüber den Wirren der hektischen Welt die Schönheit des in sich gekehrten Glaubens – an was auch immer ein jeder möchte.