Es hat einen Hauch Endzeitstimmung: „Hamburgs letztes Notengeschäft schließt“, so verkündet das Abendblatt am 14. Dezember 2016 das Ende von Noten Bartels. Ulrich Jesse, Inhaber des allein auf Musiknoten spezialisierten Geschäfts, zog die Konsequenz aus einer verzwickten Entwicklung: Sinkende Umsätze bei steigenden Kosten. Und seine Kunden? Denen bleibt nun nichts Anderes übrig, als sich eine Stunde ins Auto zu setzen und nach Bremen zu fahren. Da steht das Mutterhaus, hundert Meter Luftlinie von den Bremer Stadtmusikanten entfernt. Wem das zu mühsam ist, der kann tun, was ohnehin schon alle tun. Nämlich im Internet bestellen.
Die Digitalisierung spüren nicht nur Händler wie Ulrich Jesse, dessen Beispiel symptomatisch ist. Auch große Musikverlage wie der 1770 gegründete Verlag Schott Music aus Mainz haben mit den Folgen zu kämpfen: „Der Schott Verlag wird sich sicher nicht vergrößern in den nächsten Jahren. Weder personell noch umsatzmäßig“, prognostiziert Unternehmenssprecherin Christiane Albiez. Das klingt nicht gerade nach rosigen Zukunftsaussichten für die rund 200 Mitarbeiter des Unternehmens.
Die Probleme: IMSLP und illegale Raubkopien
Seit Jahren geistern illegale Notenkopien durchs Netz, zudem stellen Websites wie IMSLP massenweise Noten zum Download bereit, bei denen die Schutzfristen abgelaufen sind. Gratis. Der Kampf gegen Raubkopierer dagegen ist alt, im Printbereich wird schon länger munter drauflos vervielfältigt, Copyright hin oder her. Allerdings konnten die Verlage und ihre Urheber hier eine Art Schmerzensgeld erkämpfen. Gerätehersteller müssen sogenannte Kopierabgaben zahlen, um die Verluste zu kompensieren. Im Digitalen fehlen solche Modelle bislang. Die Verlage wissen aber auch, dass nationale Gesetze wenig ändern würden. Viel zu komplex, zu global ist das Problem, das World Wide Web ein Ort voller Schlupflöcher.
Christiane Albiez, Schott Music
Als sich die Auswirkungen dieser Entwicklung zu Beginn des Jahrtausends abzeichneten, war die Aufregung der Verlage groß. Dieser Diebstahl am geistigen Eigentum, der musste doch irgendwie unterbunden werden! Woran es allerdings völlig mangelte, waren kreative Ideen, die neuen Medien selbst zu nutzen. Erst 2010 folgte unter Federführung des Schott-Verlags mit notafina der erste Versuch, der illegalen Verbreitung von Noten im Netz etwas entgegenzusetzen. Zahlreiche Verlage schlossen sich auf der Plattform zusammen, um für verhältnismäßig kleines Geld Noten zum Download anzubieten. „Wir hatten so großartige Träume wie das Amazon des Notendownloads zu werden“, erinnert sich Christiane Albiez.
Solche Träume, so schön sie waren, platzten schnell. Die Umsätze blieben mikroskopisch gering, was laut Albiez auch daran liegt, dass der Markt für ein solches Modell schlichtweg zu klein ist: „Wir verkaufen eben kein Haarshampoo. Alle brauchen Shampoo, aber nicht alle brauchen eine Flötensonate.“ Aus Nutzersicht könnte man hinzufügen: Warum soll ich für etwas Geld bezahlen, das es woanders kostenlos gibt?
Hoffen auf Gewinne im App-Geschäft
2010 bringt Apple das erste iPad auf den Markt. In den Folgejahren boomt der App-Markt und auch die Musikverlage träumen davon, diesmal endlich auch ein Stück vom Kuchen zu bekommen. Wieder recht früh dabei ist 2012 der Schott-Verlag mit seiner App Eulenburg PluScore. Die an Schulen und Universitäten gängigen Eulenburg-Studienpartituren können in der App erworben, betrachtet und digital beschriftet werden, dazu liefert die Deutsche Grammophon passende Hörbeispiele. Doch auch dieser Versuch – ein Flop.
Die App wird nicht nur kaum heruntergeladen, auch hier ist die Bereitschaft registrierter Nutzer, in digitale Noten zu investieren, mager. Heute erwirtschaftet Schott Music mit allen digitalen Produkten weniger als ein Prozent des Gesamtumsatzes. Dass die Risikobereitschaft abgenommen hat, verwundert daher nicht. „Im Moment sehe ich keinen Musikverlag, der im großen Stil in digitale Produkte investieren kann“, so das Zwischenfazit von Albiez. „Wir haben alle unsere bitteren Erfahrungen gemacht, dass es hohe Investitionen erfordert, die sich derzeit nicht amortisieren lassen. Und das gilt aus meiner Sicht für sämtliche Verlags-Apps, die auf den Markt gekommen sind.“
Das klassische Verlagsgeschäft – ein komplexes Gebilde
So ganz stimmt das nicht. Zumindest beteuert man beim sehr viel kleineren G. Henle Verlag in München, weiterhin kräftig in die eigene Notenapp Henle Library zu investieren. Mit dem Start der App vor einem Jahr hat sich Henle im Vergleich zu PluScore von Schott oder der 2013 erschienenen StudyScore-App von Bärenreiter eher Zeit gelassen. Und man gibt sich sogar ausgesprochen optimistisch: „Sie hat eingeschlagen in der Musikwelt!“ freut sich da der stellvertretende Verlagsleiter Norbert Gertsch anlässlich des ersten Geburtstags im Henle-Blog. Konkrete Zahlen will er zwar nicht veröffentlichen, auf Nachfrage lässt Herr Gertsch allerdings wissen, „dass die steigenden Umsatzzahlen Spaß machen“ und dass man im Verlag überrascht sei, wie gut die App angenommen würde. Falls das stimmt, stellt sich die Frage: Wie hat Henle das geschafft?
Zunächst zeigt der Vergleich, dass die Henle Library mehr Features bietet als die älteren Apps. Man kann nicht nur hineinschreiben und -malen, sondern auch Fingersätze ein- oder ausblenden, teilweise von berühmten Musikern wie András Schiff oder Frank Peter Zimmermann. Auch ein Metronom ist integriert, außerdem lässt sich der Abstand der Notenzeilen variieren, die Größe an die persönlichen Vorlieben anpassen. Im Vergleich zur Zeichenfunktion bei PluScore, die mit ihren ziemlich pixeligen Strichen an das gute alte Paint erinnert, fühlt sich die Bedienung in der Henle Library schon um einiges natürlicher an, auch viele musikspezifische Zeichen wie Auf- oder Abstriche lassen sich einfügen. Alles in allem kann man sagen: Diese App ist nicht nur einfach zu bedienen und ästhetisch ansprechend, sondern auch inhaltlich ausgeklügelt.
Bildergalerie – Chronik der Noten-Apps
Bei allen jüngeren App-Entwicklungen, angefangen bei der Chor-App Carus Music bis zur jüngsten Klavier-App TIDO vom Edition Peters-Verlag, hat sich die Erkenntnis durchgesetzt, dass eine digitalisierte Ausgabe dem gedruckten Exemplar nicht nur in allen Qualitätsaspekten gleichkommen, sondern die Möglichkeiten des Digitalen auch ausschöpfen muss. So kann man bei Henle etwa von der Einzelstimme eines Streichquartetts mit nur einem Klick an die entsprechende Stelle in der Partitur springen oder eigene Fingersätze abspeichern und diese mit anderen Usern teilen.
Gute Ideen muss man sich auch leisten können
Klar ist aber auch: Eine gute App ist nicht nur eine Frage guter Ideen, sondern auch der Kapazitäten, die man in das Produkt stecken kann und will. Bei Henle wurde die Pflege und Weiterentwicklung der App frühzeitig im Finanzplan bedacht. Bei Schott Music hat man die Investitionen in diesem Bereich dagegen stark zurückgefahren, seit der Gründung hat sich die Pluscore-App kaum verbessert. Der Verlag fokussiert sich stattdessen auf andere Herausforderungen, etwa die Digitalisierung des riesigen Katalogs aus 250 Jahren Verlagsgeschichte: „Wir haben schon viel Geld in die Hand genommen, um rückwirkend zu digitalisieren", erläutert Albiez, „doch ein großer Teil unserer rund 1000 Bühnen- und Konzertwerke und rund 35.000 Kaufwerke – seien es Strauss-Opern oder Hindemith-Sonaten – liegt noch nicht digital vor. Es würde zig Millionen kosten, das alles digital herzustellen oder zumindest hochwertige PDFs davon zu erstellen.“
Christiane Albiez, Schott Music
Das geht bei Henle deutlich schneller und günstiger – mit knapp siebzig Jahren ist er verhältnismäßig jung für einen Notenverlag, der Katalog überschaubar. Bis 2018, so zumindest der Plan, sollen alle Werke in der App verfügbar sein. Dass die Musikwelt in naher Zukunft nur noch von elektronischen Noten spielt, hält Anna Leibinger allerdings für unwahrscheinlich: „Ich glaube, dass die meisten Musiker immer auf beides setzen werden. Ich sehe das eher als Schwesternprodukte, die sich, dank der jeweiligen einmaligen Vorzüge, gegenseitig aufwerten.“
Die Einnahmen aus dem Papiergeschäft werden also trotz Einbußen nicht ausbleiben. Für einen Verlag wie Schott Music, der seine Einnahmen aus vielfältigen Kanälen bezieht, kann ein Dämpfer in einer Sparte sogar positive Auswirkungen haben, meint Christiane Albiez: „Man muss einfach sehen, dass Unternehmen in diesen Zeiten auch gesundschrumpfen können. Das wissen wir hier alle, dass wir vermutlich nicht in dieser Breite in die Zukunft gehen können, wie wir jetzt aufgestellt sind. Aber wir sind keineswegs existenziell in Gefahr.“
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