Dreckiger Dubstep wummert durch den Raum. Auf der Bühne performt Lia Şahin, deutsche Transgender-Beatboxerin mit türkischem Migrationshintergrund. Das Soundgewitter, das sie allein aus Stimme und Loopstation erschafft, überrascht mindestens so sehr wie der Blick ins Publikum. Rund dreißig Leute sitzen dort, eine krude Mischung aus vereinzelten Jugendlichen, Mittdreißigern und Rentnern. Die meisten wirken, als hätten sie ansonsten wenig am Hut mit Hip-Hop, Techno oder Dub. Trotzdem sind sie gekommen – und geblieben.
Es gehört zu den Geheimnissen des Lunalia Festivals Mechelen, dass hier, in einer Kleinstadt dreißig Autominuten von Brüssel entfernt, vieles funktioniert, was woanders als undenkbar gilt. Ein Publikum etwa, das sich auf jede noch so verrückte Programmierung einlässt. Dieselben Besucher, die bei Lia Şahin im Konzert sitzen, haben eine Stunde zuvor Renaissancemusik gelauscht, am nächsten Tag folgt elektronisch verzerrte Gesangskunst aus Dänemark. Doch bleiben wir zunächst im Kunstzentrum Nona, bei Lia Şahin und ihrer Show.
Allein das Handwerk dieser Beatboxerin fasziniert. Ihre Zungenbrecher-Rhythmen, ihre Imitation von Synthesizer bis Saxofon, ihre Geschwindigkeit. Außerdem (und das ist vielleicht das Verblüffendste) ihre Kommunikation mit dem Publikum. „Lass mich euch wirklich kennen lernen“, sagt sie anfangs, die Statements zwischen den Songs werden ein gutes Drittel des Konzerts beanspruchen. Sie redet über Selbstbewusstsein und Vorverurteilungen, von gegenseitigem Respekt und falschen Zwängen der Gesellschaft. Alles keine neuen Themen. Eine Transfrau wie Lia Şahin führt sie aber in ungewohnter Radikalität vor Augen.
„Ich stehe nicht auf der Bühne, um Musik zu machen“ – Lia Şahin im Interview
Persönliche Gespräche als Werkzeug, um Grenzen zu überwinden. Diese Strategie verfolgt auch Festivalintendant Jelle Dierickx. Um für das Festival zu werben, geht er hinaus, in die Vereine, Kneipen und Cafés der Stadt. „Ich lese keine Statistiken“, sagt Dierickx, „ich rede mit Menschen. Mittlerweile glaube ich nur noch daran.“
Dabei setzt Jelle (der mit allen sofort per Du ist) auf eine Mischung zwischen Neugierde und Albernheit. „Der Belgier lacht schon wieder“, sagen seine Freunde in der zweiten Heimat Berlin immer, wo er mit seiner deutschen Frau lebt.
Es gibt kein Konzert, bei dem Jelle nicht persönlich am Eingang steht, lachend und scherzend, um die Besucherinnen und Besucher zu empfangen. Die Vertrauensarbeit trägt Früchte: Trotz des experimentellen Programms sind viele Konzerte ausverkauft.
Jelle ist es wichtig, der Stadt ein Festival auf den Leib zu schneidern. Das beginnt beim Namen „Lunalia“, einer Anspielung auf eine alte Stadtlegende: Ein Kneipengänger torkelte nachts aus der Kneipe und sah den Turm der St. Romboutskathedrale in Flammen stehen. Er trommelte seine Mitbürger aus dem Schlaf, und alle schleppten Wasser herbei. Doch dann klarte plötzlich der Himmel auf, und das vermeintliche Feuer entpuppte sich als der orangefarbene Schein des Mondes. „Maneblusser“ werden die Bürger von Mechelen seitdem genannt: Mondlöscher.
Zweite Besonderheit des Festivals ist der Fokus auf der menschlichen Stimme, der auf Alte Musik spezialisierte Tenor Reinoud van Mechelen ist Voice in Residence. Doch mit „Stimme“ ist nicht nur Gesang gemeint, sondern jede Form der Klangerzeugung durch das Stimmorgan, Jelle hat sogar eine Geschichtenerzählerin eingeladen. Das vieldeutige Motto dazu in diesem Jahr: „The Sound of M“, dabei kann M für Mond und Mensch stehen, aber auch für die Stadt Mechelen.
Und die steckt wahrlich voller Klänge. Angefangen beim permanenten Bimmeln aus dem Turm der gotischen St. Romboutskathedrale, der gleich zwei Glockenspiele beheimatet. Das musikalische Spiel auf den Glocken hat in Mechelen schon seit hunderten Jahren Tradition und wird in der ortsansässigen Carillon-Schule fleißig gepflegt. Überhaupt scheinen es die Menschen in Mechelen zu lieben, den Alltag mit Soundtracks zu färben. In der Fußgängerzone dudelt sorgenfreie Musik aus Lautsprechern, in den Kirchen laufen Renaissancegesänge.
An die Tradition flämischer Vokalpolyphonie erinnert auch das städtische „Museum van Busleyden“: Unter einer dicken Glasscheibe leuchten kunstvoll verzierte Noten. Das Chorbuch gehörte einmal Margarete von Österreich, vor gut 500 Jahren Herrscherin der habsburgischen Niederlande. Ihr Amtssitz in Mechelen war nicht nur politisches Zentrum, sondern auch wichtiger Wirkungsort etlicher Künstler und Musiker, die sie um sich scharte.
Heute zählen zu den Klängen der Stadt auch die Sprachen der rund 140 Nationen, die in Mechelen heimisch sind – etwa jeder fünfte Bürger hat einen Migrationshintergrund. Vor zwanzig Jahren galt die Stadt noch als dreckigste Belgiens, mit wuchernder Arbeitslosigkeit und der höchsten Kriminalitätsrate des Landes. Unter der Führung des liberalen Bürgermeisters Bart Somers hat sich das Blatt jedoch gewendet. Er kombinierte knallharte Law-and-Order-Politik mit multikultureller Gemeinschaftsarbeit, installierte Überwachungskameras, reinigte zugleich aber Straßen und Plätze vom Schmutz. Heute sind die Hotels der Stadt permanent überfüllt, die Stadt gilt als sicher, die Kriminalitätsrate ist um 75 Prozent gesunken.
Ein reizvoller Ort für ein Festival, findet Jelle Dierickx: „Gerade weil der Prozess noch nicht abgeschlossen ist. Da kann ich als Festivalmacher wirklich was tun!“ Vor zwei Jahren hat er das Festival übernommen. „Das Festival war gut. Aber die Menschen waren noch nicht stolz genug darauf!“ Es geht also auch darum, einen frischen Blick auf das vermeintlich Bekannte zu werfen, vergessene Schönheit wiederzuentdecken.
Bestes Beispiel hierfür ist das Scheppersinstitut, eine Schule im Herzen der Stadt. Durch einen kleinen Tunnel gelangt man auf den Pausenhof, von dort durch zwei große Holztüren in den Festsaal der Schule, der heute als Schulmensa dient. Optisch erinnert er allerdings eher an ein königliches Theater: hölzerne Ornamente an der Decke, gusseiserne Jugendstil-Balkone, kunstvolle Fliesenmuster an den Wänden. An der Stirnseite: eine Bühne mit rotem Samtvorhang.
Katharina Smets
Der ideale Ort für ein Konzert, das zu einer „Reise in die Belle Époque“ einlädt. Das Ensemble La Revue Blanche und Radiomoderatorin Katharina Smets haben ein Programm rund um die Salondame Misia Sert entwickelt, eine schillernde Persönlichkeit der Kunstszene im Paris des Fin de Siècle. Stéphane Mallarmé widmete ihr Gedichte, Maurice Ravel Kompositionen, Pierre-Auguste Renoir porträtierte sie. Während ihre Bewunderer heute noch berühmt sind, geriet Misia in Vergessenheit.
„Wir stellen uns Musen immer als hübsche, still dasitzende Frauen vor“, sagt Katharina Smets. „Aber sie war extravagant gekleidet, unverblümt und meinungsstark.“ Als Milliardärsgattin in zweiter Ehe schmiss Misia wilde Partys und finanzierte Sergei Djagilews „Ballets russes“. Pablo Picasso saß auf ihrer Bettkante und diskutierte mit ihr die Moden der Zeit. Mit Coco Chanel stürzte sie sich dann (nach der dritten Scheidung) ins Nachtleben Amerikas, verfiel dem Drogenkonsum und starb als gebrochene Persönlichkeit.
Konzerteindrücke: Misia in Mechelen
Lunalia ist das Frühlingsfestival des übergeordneten landesweiten „Festival van Vlaanderen“, das in diesem Jahr seinen 50. Geburtstag feiert. Es wurde gegründet, um an das architektonische und kulturelle Erbe Flanderns zu erinnern, das Geld kommt größtenteils aus öffentlicher Hand. Bei der kommenden Europawahl sagen Umfragen zehn Prozent für die rechtsradikale Partei „Vlaams Belang“ voraus. Am meisten Stimmen werden die Konservativen der „Neuen Flämischen Allianz“ bekommen, auch sie kämpfen für eine Abspaltung von Wallonien. Wie reagiert man als Festivalmacher auf solche Tendenzen?
Mit subtilem Humor, glaubt Jelle. Im ersten Jahr des herbstlichen Schwesterfestivals „Musica Divina“ habe er nur französischsprachige Künstler eingeladen. Bei Lunalia gibt es eine „Große Parade der flämischen Chormusik“. Fast acht Stunden singen zwölf Chöre Werke von flämischen Komponisten, die sie „gerne singen“. Das stumpfe Beschwören flämischer Identität mit ausgrenzenden Tendenzen wird so verwandelt in ein kollektives Fest der Freude.
Wie fruchtbar es sein kann, die Grenzen zwischen fremder und heimischer Tradition zu ignorieren, führt das Ensemble Zefiro Torna vor Augen. In seinem Konzert in der königlichen Teppichmanufaktur (noch so ein verstecktes Juwel!) singen und spielen die Musiker querbeet durch alle Zeiten und Kontinente Lieder über Kräuter und heilende Pflanzen – an riesigen Wandteppichen blühen prächtige Gärten dazu.
Portugiesische Folklore steht neben Chorälen von Hildegard von Bingen, isländische Edda-Lieder neben Motetten Guillaume Dufays und Eigenkompositionen der Musiker. Faszinierend ist nicht die Vielfalt allein, sondern die Tatsache, wie selbstverständlich es Zefiro Torna gelingt, von einem Stil in den nächsten zu springen. Saxofonist Philippe Laloy kombiniert in seiner Komposition „Les roses de Saadi“ arabische anmutende Gesänge mit jazzigen Improvisationen, sein Ensemblekollege Raphael De Cock imitiert mit seiner Stimme ein Kazoobrummen dazu. Auch wenn bei Intonation und rhythmischer Präzision Luft nach oben bleibt, begeistert das kreative Potenzial, das in dieser Melange steckt.
Es gehört zu den Stärken des Lunalia Festivals, dass Vielfalt und Toleranz hier nicht lauthals gepredigt, sondern einfach vorgelebt werden. Durch das Programm, durch eingeladene Künstler, durch ein umsichtiges und engagiertes Festivalteam. Die Besucherinnen und Besucher sollen sich wohl fühlen, das zeigen viele kleine Gesten, vom Begrüßungsritual des Intendanten bis zu Lunalia-Keksen im Kinderkonzert. Es geht darum, gemeinsam eine gute Zeit zu verbringen, den Alltagstrott für einen Moment zu durchbrechen – und zu feiern! „Ich messe mich nicht mit Aix en Province oder Edinburgh“, sagt Jelle, „ich messe mich mit Weihnachten und Ostern. Das sind die echten Festivals!“
© Fotos Mechelen: Thilo Braun