Von Christopher Warmuth, 12.10.2016

Musikalischer Strom

Auf einer Debütplatte mit Mozart-Quartetten ums Eck zu kommen, ist nicht sonderlich kreativ. Vermutlich würde jeder Musikmanager einem jungen Ensemble davon abraten. Zu groß ist die Gefahr, dass man von der Diskografie erdrückt wird und in der Versenkung verschwindet. Das Quatuor van Kuijk hat es dennoch gewagt – und gewinnt.

Die vier Musiker lehnen sich aus dem Fenster, injizieren musikalischen Strom in die Melodiebögen, kosten jeden Schlag maximal aus, schwelgen in Überbordendem.

In diese Stelle verliebt man sich sofort. Stellen wir uns eine höhere Macht vor: Wäre dann das Streichquartett Nr. 19, das „Dissonanzenquartett“ von Wolfgang Amadeus Mozart, der Mittelpunkt einer Landkarte, dann würde es von dieser höheren Macht in alle vier Himmelsrichtungen auseinandergezogen werden, aber gerade noch Stand halten. Die Ziehkraft ist unfassbar! Das Violoncello lässt die bedrückend-bedrohliche Sechzehntelketten-Atmosphäre entstehen, die Bratsche setzt zur Wehklage an, die beiden Violinen stimmen mit ein. Doch dann, ja dann beginnt die Bratsche erneut. Aber es geht nicht weiter, es ist zu viel. Die Stelle dauert eine halbe Minute, erreicht nach fünf Takten ihren Höhepunkt, durchlebt den Schmerz, der alles verändert: Das, was zuvor war, und das, was noch kommen wird.

Dreißig Sekunden am Limit. 2. Andante cantabile, 5:20-5:50



Das alles ist nicht nur das Verdienst von Mozarts Komposition, das Quatuor Van Kuijk bringt die Stelle zum Beben. Es ist eine winzige Momentaufnahme einer herrlichen CD des jungen Streichquartetts, das von der BBC mit dem Titel „New Generation Artists“ geadelt wurde. Das frühe Divertimento KV 136 wird von späteren Quartetten umrahmt, beginnend mit KV 428, abschließend mit dem „Dissonanzenquartett“ KV 465. Auf der Debütplatte Mozart einzuspielen, zeugt von Selbstbewusstsein, das sie sich die Musiker leisten können: Sie packen den Dreivierteltakt im ersten Menuett am Ursprung, folgen demütig dem Violoncello und beginnen einen Tanz, der sich an sich selbst erfreut. Das Divertimento ist durchsichtig, nicht aufgeplustert, bis zum Presto-Satz, der die Rampe zu den Dissonanzen baut. Und dann lehnen sich die Vier gottlob aus dem Fenster, injizieren musikalischen Strom in die Melodiebögen, kosten jeden Schlag maximal aus, schwelgen in Überbordendem. Schlagartig wechselt die Stimmung, Mozart moduliert nach Moll, die Musiker reagieren, treten auf die Bremse, um anschließend wieder zu rasen. Danach spielt man die Platte nochmal ab. Jetzt ist alles anders.


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Wolfgang Amadeus Mozart

Mozart (Divertimento KV 136, Streichquartett Nr. 16 Es-Dur KV 428, Streichquartett Nr. 19 C-Dur „Dissonanzenquartett“ KV 465)

Quatuor van Kuijk

Alpha/Note 1

© Marie Pierre Tremblay
© Noten International Music Score Library Project


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