Von Anna Vogt, 07.07.2017

Ärger im Paradies

Menschliches Miteinander provoziert Probleme, auch und gerade bei kulturellen Veranstaltungen. Ist unser moralischer Kompass noch intakt oder versagen wir im Opernhaus beim „richtigen“ Umgang miteinander? Ein Blick in die Abgründe kultureller Gewissensfragen.

„Moral ist die Wichtigtuerei des Menschen vor der Natur.“

Friedrich Nietzsche

Wo viele Menschen aufeinanderprallen, da gibt’s meist Spannungen. Wo viele Menschen auch noch auf Kunst treffen, ist Ärger vorprogrammiert. Bei Opernpremieren beispielsweise. Nicht solche, in denen alle einvernehmlich schwelgen, sondern die, bei denen es am Ende kracht, wenn Buh-Orkane gegen Jubel-Tiraden anschallen und das entindividualisierte Massenpublikum wie die zwei verfeindeten Lager im Fußball-Stadion wirkt: Hooligans in Anzügen und Abendkleidern. Jedes Mal bin ich zugleich fasziniert und abgeschreckt von solch einem Brachial-Feedback, wenn sich das Regie-Team das erste und einzige Mal während einer Opernproduktion seinem Publikum direkt ausliefert. Doch „darf“ man jemanden so niederschreien oder ist das nicht moralisch zumindest fragwürdig? Muss man nicht auch die Leistung, den immensen Aufwand, der hinter jeder Produktion steckt, anerkennen und auch den Menschen mit seinen Gefühlen, der da vor einem auf der Bühne steht – egal, ob einen die Premiere unendlich genervt hat? „Moral ist die Wichtigtuerei des Menschen vor der Natur“, schrieb Nietzsche 1882. Doch ist ein Miteinander ohne Moral eine Alternative? Wohl kaum.

Psychogramm unserer Gesellschaft

Wenn man mal wirklich darüber nachdenkt, konfrontiert uns der Besuch eines Opern- oder Konzerthauses mit jeder Menge Grundsatzfragen. Die Moral-Instanz der Süddeutschen Zeitung, Dr. Dr. Erlinger, gibt auf Gewissensfragen jede Woche meist kluge Antworten. Spannend sind aber vor allem die von ihm behandelten Fragen, denn in ihnen zeigt sich das ganze skurrile, oft banale Psychogramm unserer heutigen Gesellschaft. Offensichtlich bewegen die Menschen tatsächlich Probleme wie „Ist es okay, im Supermarkt grundsätzlich nur Tomaten ohne Strunk zu kaufen, damit dieser beim Abwiegen nicht den Preis in die Höhe treibt?“ oder „Darf man die Formel 1 im Fernsehen verfolgen, nur um möglichst spektakuläre Unfälle zu sehen?“ oder „Wenn man bei einer Hochzeit neben Gästen sitzt, die offenbar niemand anderen kennen: Muss man sie ins Gespräch einbeziehen?“

Kürzlich saßen wir bei einem Fest in kleinerer Runde zusammen und kamen zufällig darauf, dass wir alle bereits Gewissensfragen an Dr. Dr. Erlinger geschickt hatten, von denen aber anscheinend keine der Bearbeitung für würdig befunden worden war. Darunter war die Folgende: „Wenn im Konzert der Platz neben mir frei ist und ich von dort besser sehen kann: Darf ich mich umsetzen, auch wenn das die Sicht meines neuen Hintermanns einschränken könnte?“ Schon allein die Idee zu dieser Frage unterscheidet den Altruisten vom Egoisten, den aufmerksamen Mitdenker vom selbstbezogenen Genießer. Erlinger hat sich aber lieber einer anderen Konzert-bezogenen Frage gewidmet: „Eine ältere Dame hat im Konzert nur einen Stehplatz, obwohl ihr das lange Stehen sichtlich schwerfällt. Muss man ihr den eigenen Platz anbieten?“ Würde ich das tun? Schwer zu sagen. Auch bei der folgenden Frage spielt zumindest mein moralischer Kompass etwas verrückt: „In der Pause eines Sinfoniekonzerts wird eine ältere Dame wegen ihres lauten Beatmungsgeräts aus dem Saal geführt. Ist das in Ordnung?“ Eigentlich nicht, die arme Frau! Aber wegen ihr das eigene Konzerterlebnis massiv stören lassen?

Was darf ich? Was muss ich? Was soll ich?

Fängt man erst einmal an mit der Moral, kommen die Fragen wie von selbst. Manche sind auch für ethisch eher Unbedarfte leicht zu beantworten: Darf ich als Rezensent in der Pause gehen, wenn es mir überhaupt nicht gefällt? (klares NEIN!). Darf ich bei Wagners „Götterdämmerung“ ein Schläfchen einlegen? (UNBEDINGT!) Über andere müsste man schon länger nachdenken: Darf ich meinen (unbekannten) Nebenmann darum bitten, nicht so zu zappeln? Darf ich mich über die sich träge in der Pause bewegenden Menschenmassen aufregen, obwohl ich ein Teil von ihnen bin? Darf ich das Programmheft nur überfliegen oder würdige ich damit die Arbeit der Autoren nicht genug? Darf ich den Künstlern gegenüber ganz ehrlich sein, auch wenn ich mit ihnen persönlich befreundet bin und sie nicht verletzen will? Muss ich das vielleicht sogar?
Kann man solche Fragen überhaupt generell beantworten? Und wollen wir das, oder wäre eine Gesellschaft, die sich immer nach moralisch einwandfreien Prinzipien verhält, auch einfach super langweilig? Ich zumindest habe auf keine dieser Fragen eine eindeutige Antwort. Stattdessen bleibt mir nichts anderes übrig, als von Fall zu Fall zu entscheiden, mit etwas gesundem Menschenverstand, einem Schuss von Kants kategorischem Imperativ und Empathie für meine Mitwelt. Vielleicht ist das ja auch genug.

© J.D. Hancock/flickr.com/CC BY 2.0
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