Von Jesper Klein, 18.02.2020

Vogelschwärmer

Der argentinische Dirigent Alejo Pérez, Musikdirektor in Antwerpen und Gent, ist ständig auf Achse. Zur Ruhe kommen, das ist für ihn nichts. Ein Gespräch über zeitgenössische Musik, Wunschprojekte und darüber, was das Dirigieren mit Vogelschwärmen zu tun hat.

Sein Klapprad hat Alejo Pérez immer dabei. Wenn es sein muss, trägt er es auch ins Café und die Stufen hoch. Seit Herbst vergangenen Jahres ist der argentinische Dirigent in Belgien zu Hause, an der Flämischen Oper in Antwerpen und Gent. Daher auch das Klapprad – vom Bahnhof zum Theater, das geht so einfach am schnellsten. Pérez wirkt rastlos, eben noch eine Kommissionssitzung, jetzt dieses Interview. Schnurstracks marschieren wir über den Platz vor der Oper, in einem Café bestellt sich Pérez schnell einen Espresso, im ersten Stock finden wir eine halbwegs ruhige Ecke.

niusic: Herr Pérez, Sie sind ein viel beschäftigter Dirigent und immer unterwegs. Macht das für Sie den Reiz des Jobs aus?
Alejo Pérez: Das können Sie laut sagen. Ich genieße diese ständige Abwechslung von Sprachen, Kulturen, Menschen, Repertoire.

niusic: Viel hin- und herzujetten und dann gar nicht mehr bei seinem Orchester zu sein, ist ja aber auch nicht unproblematisch ...
Pérez: Ich bin viel hier vor Ort! Aber diese Abwechslung ist sowohl gut für mich als auch für das Orchester. Ich finde es wichtig, dass es auch mit anderen Gastdirigenten zusammenarbeitet. Auf gar keinen Fall – und da bin ich auf Ihrer Seite – würde ich gleichzeitig mehrere feste Jobs machen. Das habe ich nie verstanden. Manche Dirigenten haben ja sogar drei Positionen inne.

niusic: Sie sind in Buenos Aires geboren. Wie sind Sie überhaupt zum Dirigieren gekommen?
Pérez: Das kam über mein Interesse am Komponieren. Schon als Kind wollte ich komponieren, habe natürlich Klavier spielen gelernt, später Dirigieren studiert. Das Interesse am Dirigieren kam dann allmählich. Das hat auch eine sozialere Ebene als sieben, acht Stunden pro Tag am Klavier oder am Schreibtisch zu sitzen. Um dann eine oder zwei Minuten Musik zu schaffen. Komponieren ist ein anstrengender Prozess. Man kommt langsam voran, ist nie hundertprozentig zufrieden. Mittlerweile betrachte ich mich überhaupt nicht als Komponist, sondern nur als Dirigent.

Von Buenos Aires bis Antwerpen

Alejo Pérez studierte zunächst in Buenos Aires. Es folgten Assistenzen bei Peter Eötvös in Karlsruhe und bei Christoph von Dohnányi, wo er regelmäßig das NDR Sinfonieorchester dirigierte. Als musikalischer Leiter des Teatro Argentino de La Plata verhalf Pérez dem wichtigen argentinischen Opernhaus von 2009 bis 2012 zu neuem Glanz, realisierte dort etwa Wagners „Tristan und Isolde“ sowie das „Rheingold“. Zuletzt dirigierte er bei den Salzburger Festspielen, am Teatro Colón, an der Semperoper Dresden und der Lyric Opera of Chicago. Seit September 2019 ist Pérez Musikdirektor der Vlaamse Opera, wo er zuletzt für die Wiederentdeckung von Franz Schrekers „Schmied von Gent“ am Pult stand. Als nächstes Projekt steht eine von Ai Weiwei inszenierte Neuproduktion von Giacomo Puccinis „Turandot“ in Rom bevor.

Das Dirigieren hat einen humanen Aspekt, den ich sehr genieße.

Alejo Pérez

niusic: Das heißt, Sie arbeiten lieber mit Menschen zusammen als sich im Kämmerlein zu verschanzen?
Pérez: Das Dirigieren hat einen humanen Aspekt, den ich sehr genieße. Ich genieße es, das Beste aus den Menschen herauszuholen – das ist hauptsächlich der Job eines Dirigenten. Für das Komponieren braucht man ein gewisses Vakuum in sich, ich beschäftige mich aber am Tag mit mindestens vier, fünf Werken. Sich einfach so an den Tisch setzen und in Eile etwas zu komponieren, das funktioniert für mich überhaupt nicht.

niusic: Inwiefern spielen Argentinien und die Musik dort für Sie heute noch eine Rolle?
Pérez: Ich habe dort noch viel Familie und versuche, möglichst viel da zu sein. Aber ich dirigiere dort nicht mehr so viel, einmal pro Jahr vielleicht. Das ist mehr eine Ausrede, um dort Zeit zu verbringen. Natürlich fühle ich mich mit dem Land verbunden, aber meine Aktivität liegt zu mindestens neunzig Prozent in Europa.

niusic: Schon während des Studiums haben Sie ein Ensemble für zeitgenössische Musik gegründet. War das schon immer Ihr Ding?
Pérez: Das Interesse war auf jeden Fall da. Schon damals habe ich aber auch als Pianist das ganze Repertoire gespielt. Die Oper, nicht nur die moderne, hat mich immer fasziniert. Ich bin der Meinung, dass man mehr über die Musik lernt, wenn man sich in der Geschichte rückwärts vorarbeitet. Ich finde es nicht akzeptabel, wenn Interpreten die Musik von heute nicht kennen.

niusic: Das heißt, irgendwann kommen Sie dann im 17. Jahrhundert an oder noch früher?
Pérez: Ich meine das vor allem mit Blick auf das Verständnis der Musik. Man betrachtet das Repertoire anders. Vielleicht ein Beispiel: Man genießt Gesualdo oder Monteverdi mehr, wenn man die Vokalstücke von Ligeti oder Berio kennt. Diese Diagonale in der Geschichte der Musik fasziniert mich ungemein.

Alejo Pérez hat eine Vorliebe für Sanduhren

niusic: Ist der Job für Sie ein anderer, wenn Sie zeitgenössische Musik dirigieren?
Pérez: Bei gewissen Werken des großen Repertoires spürt man den Druck der großen Tradition und die Vorstellung, wie etwas gespielt werden soll. Bei Neuer Musik 107 habe ich diesen Druck nicht. Ich fühle mich freier, auch dem Orchester gegenüber. Wenn ich Mozart oder Brahms dirigiere, erwartet man von mir eine Aussage, wie ich diese Musik lese. Bei einer Uraufführung gibt es diese Vorbedingung an Originalität nicht. Man muss einfach das Stück liefern, so gut man kann. Dem Werk treu sein. Aber ich bin nicht Dirigent A oder B abhängig vom Repertoire. Ich betrachte mich auch gar nicht als Spezialisten für zeitgenössische Musik. Ich hatte mal so ein Profil, fühle mich aber in beiden Welten sehr wohl. Mozart und Wagner habe ich viel gemacht. Da habe ich auch das Gefühl, dass ich das gut kann. Ich habe den Hunger, diese Komponisten immer wieder zu entdecken.

niusic: Sie dirigieren viel Oper, habe ich den Eindruck. Reizt Sie das mehr als das Konzert?
Pérez: Anfangs war es eigentlich umgekehrt. Aber es stimmt. Es reizt mich ungemein zu analysieren, wie Komponisten auf einen Text reagieren. Wenn Musik mit Storytelling verbunden ist. Ich versuche immer, das Orchester dafür zu sensibilisieren. Klassischer Fall im Opernbetrieb: Der Dirigent sagt „leiser, leiser, leiser“, weil man die Bühne natürlich nicht überdecken will. Es ist etwas anderes, wenn man das Orchester mit in die Geschichte hineinzieht. Wenn man erklärt, warum gerade an dieser Stelle der Sänger oder die Sängerin diese Phrase piano singen muss. Da öffnen sich die Ohren und das Orchester wird zu einem Teil der Geschichte. Diese Dramaturgie ist für mich sehr reizvoll. Ich bin ein Dirigent, der gerne so viel wie möglich bei den szenischen Proben anwesend ist.

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Bis man so frei wird, dass man einfach auf den Moment reagieren kann, muss sehr viel gearbeitet werden.

Alejo Pérez

niusic: Kontrolle, Balance und Transparenz sind wichtige Dinge beim Dirigieren. Das haben Sie mal in einem Interview gesagt. Muss man die Kontrolle nicht auch mal abgeben?
Pérez: (überlegt lange) Mein Ideal vom Musizieren hat etwas mit einem Vogelschwarm zu tun. Offensichtlich gibt es da ein Gehirn in diesen Hunderten von Vögeln, aber man sieht es nicht. Diese pure Synchronizität wäre das ideale Musizieren. Aber bis man so frei wird, dass man einfach auf den Moment reagieren kann, muss sehr viel gearbeitet werden. Dafür müssen Dirigent, Orchester und Sänger sich gut kennen.

niusic: Im Vogelschwarm wechseln die Positionen ja ständig, wer gerade "führt" ist meist gar nicht erkennbar. Heißt das, Sie treten als Person zurück?
Pérez: Absolut. Ich bin kein großer Freund der Idee des Dirigenten als Weltstar. Man vermittelt die Welt, die ein Komponist sich vorgestellt hat. Solange etwas geschieht, das eine gewisse Magie in sich hat, braucht man das nicht zu überspielen. Es geht in diesem Sinne um Kontrolle, nicht um das Diktieren.

niusic: Wenn Sie träumen dürften: ein Wunschprojekt mit Komponist, Künstler, Orchester, Ort Ihrer Wahl. Was wäre das?
Pérez: Wagners „Ring“ steht ganz oben auf der Liste! Wir haben das damals in Argentinien angefangen, aber nicht zu Ende bringen können. Und persönliche Träume gibt es natürlich: alle Mahler-Sinfonien als Zyklus zum Beispiel. Auch für das russische Repertoire und die Sprache habe ich ein Faible. Vieles.

© Hero und Fließtext: Michelle Krymer
© Kachel und Extrakasten: Karim Khawatmi


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