Von Anna Vogt, 16.08.2019

Originalverpackt

Historische Aufführungspraxis der Musik ist längst Standard, historische „Inszenierung“ dagegen ist eine absolute Rarität. Mit der Barockoper „La Merope“ begeben sich die Innsbrucker Festwochen auf eine umfassende Zeitreise ins 18. Jahrhundert. Will man da mit? Begegnungen mit der eigenen Irritation.

Manchmal schieben sich in Innsbruck die Wolken wie bewegliche Kulissen vor die steil hinter der Stadt aufragenden Berge: Die Natur spielt hier ihr ganz eigenes Theater, denn die Hauptstadt von Tirol mit ihren etwa 130.000 Einwohnern ist spektakulär gelegen. Der reißende Inn durchschneidet den Ort, im Norden und im Süden erheben sich unvermittelt hohe Berge, auf die man aus der Altstadt in wenigen Minuten direkt mit der Gondel entschweben kann. Wenn man von München nach Italien fährt, liegt Innsbruck auf halber Strecke, die kleinen Piazzi und Cafés sind spürbar vom südlichen Nachbarn beeinflusst, man hört viel Italienisch und spürt gleichzeitig eine urige, österreichische Gemütlichkeit: ein idealer Urlaubsort. Im Sommer ist Innsbruck nicht nur Bergsteiger-Paradies, sondern vor allem auch Kulturstadt. Schräg gegenüber vom heutigen Tiroler Landestheater und dem neuen, futuristischen Haus der Musik wurde 1772/73 das erste Opernhaus nördlich der Alpen eröffnet. Wie passend, dass sich die Festwochen der Alten Musik hier auch sehr intensiv der Barockoper widmen, vor allem der italienischen.

Die Festwochen der Alten Musik in Innsbruck

Die erste Opernproduktion der diesjährigen 43. Ausgabe wirkt ziemlich kompromisslos, denn Intendant Alessandro De Marchi konzipierte sie als ambitionierte Exkursion ins 18. Jahrhundert: „La Merope“ von Riccardo Broschi, dem Bruder des berühmten Sängers Farinelli. Für ihn komponierte Broschi die atemberaubend schwierige Partie des Epitide, dessen Vater, König von Messenien, und dessen Geschwister vom bösen Polyfonte ermordet wurden und der nun – in einer ziemlich verworrenen Handlung voller Intrigen und großen Emotionen – seine Mutter retten und die Macht seiner Familie wieder herstellen will.

„La Merope“ ist eine Mammutaufgabe für alle Beteiligten, schon allein durch ihre Spieldauer von gut 4 ½ Stunden. De Marchi musste außerdem das Notenmaterial sichten, zum Teil ergänzen und neu editieren, für die drei Tanz-Intermezzi instrumentierte er stilistisch passende Fragmente von Leclair und Rasetti. Die Sänger*innen mussten nicht nur ihre höllisch schweren Partien einstudieren, sondern für die Bühne auch eine Bewegungssprache lernen, die Barock-Spezialistin Sigrid T´Hooft nach historischen Quellen erarbeitete (ebenso wie für die Ballette, die ein Spezialisten-Ensemble übernahm). Mehr Aufwand geht nicht und mehr Expertise wohl auch nicht. Das Ziel des Abends: eine möglichst genaue Rekonstruktion der Oper, wie man sie zu ihrer Entstehungszeit vermutlich auf der Bühne erleben konnte. Jeder Auf- und Abtritt genau festgelegt, jede Geste Millimeterarbeit, jede Mimik ein eingefrorenes Bild. Für die Zuschauer ist das vor allem ungewohnt in Zeiten des Musik-Regietheaters. Warum macht man das? Und vor allem: Funktioniert das für ein heutiges Publikum?

Jede Geste Millimeterarbeit, jede Mimik ein eingefrorenes Bild

Auch für mich ist die Premiere dann eine Premiere: Denn ich habe in meinem Leben viele Opern gesehen, auch Barockopern, nie aber historisch inszeniert wie hier. Für mich ist (gutes) Regietheater die Überlebensstrategie für Opern und zugleich auch ihre Legitimation. Inszenierungen erklären uns die alten Stoffe, kommentieren sie, positionieren sich dazu – und machen sie damit aktuell und relevant. Und genau das wird in der Innsbrucker Produktion nicht passieren, wie mir schon beim ersten Auftritt des Epitide in seinem extravaganten Tigermuster-Kleid und dem opulenten Kopfschmuck klar wird. Die Bühne ist in warmes Licht getaucht, von der Decke hängen elektrisch betriebene Kronleuchter, die die Kerzenbeleuchtung des 18. Jahrhunderts imitieren. Kunstvoll bemalte Kulissen werden mit Hilfe von Schnüren wie von Geisterhand bewegt: ein prachtvolles Illusionstheater, das fast ohne Requisiten auskommt, steril und schön.

Doch die Auftritte und vor allem die Gesten der Darsteller wirken befremdlich auf mich, und das liegt vor allem daran, dass sie im Barock-Theater eben nicht als „natürliche“ Verstärkung von Emotionen, als spontaner, authentischer Ausdruck des Innersten gedacht sind. Sondern als artifizielle Kunstwerke, wie De Marchi mir am Tag zuvor erklärt hat: „Nichts ist naturalistisch oder spontan, alles ist codifiziert und stilisiert. Ein bisschen, wie man das vielleicht aus der Peking-Oper kennt oder aus dem japanischen Kabuki-Theater. Es ist wirklich eine andere Welt“.

Braucht ein altes Werk überhaupt einen kritischen Kommentar, das Hinterfragen, den Blick aus der Distanz?

Vielleicht bin ich auch irritiert, weil mir diese „andere Welt“ allzu märchenhaft vorkommt, ein unwirkliches Bilderbuch für Erwachsene, voller Klischees. Der böse König Polyfonte mit weißem Rauschbart und zackiger Krone, der Intrigant Anassandro mit schwarzem Reifrock, symbolisch gefesselt, die Frauen in Prinzessinnen-Kleidern. Dabei sind diese Kleider kunstvoll und sicherlich mit viel Detailwissen gefertigt, ihre Stoffe schimmern im dunklen Licht, man schaut sich kaum satt an den raffinierten Kopfbedeckungen, an den knöchellangen Halsketten. Woher also kommt mein Unbehagen an dieser stilisierten „Schönheit“? Wird hier eine Wohlfühl-Ästhetik zelebriert, die nicht weh tut und uns einige Stunden lang die Realität von heute vergessen lassen soll? Fehlt mir die kritische Auseinandersetzung mit dem Werk, die eine moderne Regie eigentlich immer bietet oder zumindest bieten sollte? Braucht ein altes Werk mit einem mythischen Stoff überhaupt einen kritischen Kommentar, das Hinterfragen, den Blick aus der Distanz?

Im Verlauf des langen „Merope“-Abends und in der Auseinandersetzung mit meinen zwiespältigen Gefühlen dazu entwickle ich eine These: Kürzlich sah ich den Stummfilm-Klassiker „Metropolis“. Wir lachten über die klischeehaften Szenen. Aber dieser Film hat viele der Film-Klischees erst geschaffen, den spionierenden Bösewicht hinter der Zeitung, den leidenschaftlichen Hollywood-Kuss. Chronologie ist in so einem Fall entscheidend. Genauso ist es mit der Oper: In den frühen Opern waren solche opulenten, höfischen Kostüme und stilisierten Gesten keine Klischees. Sie sind der Ursprung vieler Klischees. Und dieses im Lauf der Jahrhunderte entstandene Eigenleben ist nicht ganz einfach auszublenden. Vielleicht ist es auch eine Generationen- und Interessensfrage: Natürlich werden Kunsthistoriker in jedem der schillernden Gewänder und federbesetzten Kopfbedeckungen, in jeder genau choreografierten Geste eine Verbindungslinie erkennen können zur Kunst, in der sich diese Topoi spiegeln. Aber genauso kann man diese auch in der Populärkultur erkennen, in der Märchenwelt von Filmen, Büchern und nicht zuletzt in Musicals, Operetten oder Operninszenierungen, die mit der Ästhetik und dem Bekanntheitsgrad von zum Klischee erstarrten Gesten, Kostümen und Perücken spielen. In Innsbruck ist das alles so gut gemacht, wie man das nur machen kann. Doch mein Assoziationenkarusell lässt sich nicht stoppen.

Es ist dann vor allem die Musik, die mir nahe geht. Auch sie ist in gewisser Weise stilisiert und sehr pur, aber zugleich hochgradig emotional. Eine Musik, die im Zuhörer trotz der historischen Distanz zu Broschi viel schneller etwas zum Schwingen bringt als die meisten Opern aus unserer Zeit. Auch wenn Broschis Nummern nicht die Tiefe mancher Händel-Arien erreichen mögen und vieles ziemlich nach Standard-Plan klingt, so ist er doch ein versierter Stimmungsdramaturg: Seine Musik ist betörend, dann wieder blendend virtuos, mit Glitzer und vokalen Showeffekten, man staunt und fühlt mit. Die drei Countertenöre David Hansen, Filippo Minecchia und Hagen Matzeit geben mit ihren besonderen Stimmfarben dieser Musik eine ätherische Note, bodenlos und dennoch körperreich. Sie sind hörbar Experten ihres Fachs, ebenso wie die Sängerinnen Anna Bonitatibus, Vivica Genaux und Arianna Vendittelli.
Ohne solche sängerischen Qualitäten funktioniert Alte Musik nicht: „Wenn diese Musik schlecht dirigiert und vor allem schlecht gesungen wird, ist sie nicht zu ertragen!“, so De Marchi dazu. „Man braucht wirklich Spezialisten, die das gut machen. Das war vor 50 Jahren auch mit Rossini so … Erst mit den richtigen Sängern blüht diese Musik auf“. Und das tut sie an diesem Abend, dank der fantastischen Stimmen, auch wenn nach fünf Stunden die Ohren müde sind und die Konzentration im Saal merklich nachgelassen hat.
Früher, im 18. Jahrhundert, hat man während solcher Opernabende gegessen, getrunken, geflirtet oder Karten gespielt. Soweit aber geht die Rekonstruktion in Innsbruck nicht. Das Rad lässt sich auf der Bühne zurückdrehen, aber nicht in Bezug auf unsere Rezeptionsweisen und -gewohnheiten.

„Wir klingen original“, ist einer der Slogans der Festwochen. Ist das tatsächlich möglich oder ein unerreichbares Ideal, will ich noch von De Marchi wissen. „Ein Wortspiel“, sagt er und schmunzelt. „Und ja, ein Ideal. Es ist nicht möglich, etwas wirklich vollkommen zu rekonstruieren. Was Sie hier sehen können, ist wahrscheinlich das Maximum an Rekonstruktion, das man machen kann: Wir haben die richtigen Stimmen, wir haben die richtigen Instrumente, wir haben sehr genau gearbeitet, wir haben zum Teil die Musik aus Skizzen rekonstruiert … Aber man riskiert natürlich jedes Mal, etwas Falsches zu machen.“

„Alle 20 Jahre kommt etwas Neues in Mode. Jede Generation lacht über die Interpretation der vorhergehenden.“

Alessandro De Marchi

Das Publikum scheint De Marchis Ausgrabungen und seinem musikalischen Urteilsvermögen längst zu vertrauen, auch wenn viele den Namen Broschi vermutlich noch nie gehört hatten. Alle drei „Merope“-Abende waren im Voraus ausverkauft, überhaupt sind die Auslastungszahlen des Festivals mit meist mindestens 95 Prozent traumhaft. Das Publikum kommt – so De Marchi – zu 60 bis 70 Prozent aus Innsbruck und Umgebung, und altersmäßig scheint es zumindest bei der „Merope“-Premiere angenehm durchmischt zu sein. So kann De Marchi sich auch in den nächsten Jahren auf die Suche nach verschollenen Opernschätzen in den Archiven machen. Mit dem Wissen, dass man niemals den endgültigen, den einzig „richtigen“ Schlüssel zur Welt des Barock finden wird. Aber auch das sieht De Marchi entspannt: „Alle 20 Jahre kommt etwas Neues in Mode. Jede Generation lacht über die Interpretation der vorhergehenden, irgendwann wird auch jemand über meine Interpretation lachen. Aber darum geht es nicht …“

© Innsbrucker Festwochen/Rupert Larl
© Wolkentheater: Anna Vogt
© Alessandro De Marchi: Sandra Hastenteufel


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