Von Carsten Hinrichs, 22.07.2016

Mehr Hup-Raum!

Die Musikwissenschaft der Tröte: An der University of Michigan fand man heraus, dass wir Gershwins „American In Paris“ schon seit Jahrzehnten falsch hören.

Auf sämtlichen Einspielungen sind die Taxis in diesen Tönen zu hören – die sich auch prima schräg in den brodelnden Orchestertumult der Straßenszene einfügen. Auf allen, bis auf einer.

Dass die Musikwissenschaft nicht nur jahrhundertealtes Staubfutter aus Archiven mampft, sondern selbst an oft aufgeführten Werken der Moderne noch Neues entdecken kann, hat sich gerade wieder erwiesen, und zwar an einem der meist gespielten Evergreens. Die Rede ist von George Gershwins burschikos-auftrumpfendem Orchesterklassiker „An American In Paris“ von 1928. Berühmt wurde das Stück für vier Taxi-Hupen, die der Komponist als klangliche Zutat seiner Partitur fordert und die das Flair der turbulenten Metropole und ihrer Boulevards bis in den Konzertsaal schwappen lassen. Wann immer heute ein Orchester dieses Werk aufführen möchte, müssen auch Hupen in den entsprechenden Tonhöhen vorhanden sein oder als Leihinstrumente herbeigeschafft werden.

Ein Blick in die Noten zeigt, dass Gershwin die Passagen mit den Taxi-Hupen, aufgrund ihrer unveränderlichen Tonhöhe, wie Schlagzeuge notierte, also den Rhythmus ihres Hupens auf lediglich einer Notenzeile, dazu den jeweiligen Tonbuchstaben der Hupen, die in a, b (englische Notation für h), c und d gestimmt sein müssen. So dachte man zumindest bislang. Auf sämtlichen Einspielungen sind die Taxis in diesen Tönen zu hören – die sich auch prima schräg in den brodelnden Orchestertumult der Straßenszene einfügen. Auf allen, bis auf einer.

Marc Clague ist Musikwissenschaftler an der University of Michigan und zugleich Leiter der dort entstehenden kritischen Ausgabe der Werke von George und Ira Gershwin. Als er sich jüngst für die Neuausgabe des „American In Paris“ die Originalpartitur zur Brust nahm und alte Studioaufnahmen damit verglich, stieß er auf eine Einspielung, in der die Hupen nicht wie sonst üblich brav aufsteigend auf a, h, c und d gestimmt waren, sondern ganz anders klangen, im Tonraum viel breiter gestreut. 1929, ein Jahr nach der Komposition, hatte das Victor Symphony Orchestra unter Nat Shilkret das Werk erstmals aufgenommen, und obwohl Shilkret Gershwin, der die Aufnahmen überwachte, aus Nervosität aus dem Studio schickte, musste er ihn nur kurze Zeit später wieder hinzuholen – es fehlte ein versierter Spieler für den Celesta-Part. Gershwin sprang ein. Und steuerte offenbar auch seine originalen Pariser Hupen bei, die er bei einem Besuch an der Seine erstanden und nach New York mitgenommen hatte.



Ein Franzose in New York

Schon 1926 reiste George Gershwin erstmals nach Paris, um beim großen Maurice Ravel Kompositionsunterricht zu nehmen. Als diesem der Vorjahresverdienst Gershwins zu Ohren kam, antwortete er lachend, er sei es wohl, der lieber bei Gershwin studieren sollte. Dennoch traf man sich für ein paar Stunden, die sich zu angeregten Gesprächen über Fragen der modernen Harmonielehre entwickelten. Zurück in den USA überzeugte Gershwin mit Hilfe eines befreundeten Tourveranstalters Maurice Ravel zu einem lukrativen Gegenbesuch, mit Konzerten im ganzen Land. Im Februar 1928 konnte er den Franzosen in New York zum Start seiner US-Tournee begrüßen, in deren Verlauf Ravel auch andere Berühmtheiten wie etwa Charlie Chaplin traf. 1928 versuchte Gershwin nochmals, Kompositionsstunden bei der ihm von Ravel empfohlenen Nadia Boulanger zu nehmen, doch auch sie wusste ihm nichts Neues beizubringen. „Warum wollen Sie ein zweitklassiger Ravel sein, wenn Sie doch schon ein erstklassiger Gershwin sind?“, soll sie damals geantwortet haben.
So wurde die Hauptperson von Gershwins beiden Reisen die Stadt Paris selbst, deren Lebensgefühl in den „Roaring Twenties“ zahlreiche Künstler genossen – wie Ernest Hemingway, Pablo Picasso oder Igor Strawinski. Aus einem vor Ort notierten Melodiefetzen entwickelte Gershwin eine sinfonische Dichtung, die ganz autobiografisch „die Eindrücke eines amerikanischen Besuchers in Paris porträtiert, der durch die Stadt flaniert, den verschiedenen Straßengeräuschen lauscht und die französische Atmosphäre aufnimmt.“ Dazu bereicherte Gershwin das klassische Sinfonieorchester um Celesta, Saxofone und die besagten Taxi-Hupen. Das quirlige Treiben am Ende und zu Beginn des Orchesterstücks wird kontrastiert von einem Mittelteil „plötzlichen Heimwehs“, wie Gershwin schrieb, in dem der American Blues und jazzige Töne vorübergehend die Oberhand gewinnen. „An American In Paris“ ist bis heute neben der „Rhapsody In Blue“ und „Porgy and Bess“ Gershwins beliebtestes Stück.

Des Rätsels Lösung lag wohl, wie Clague im Interview mit dem amerikanischen Musiksender NPR Music erklärte, „an Georges ganz eigener Bewegung zwischen der populären Sphäre und der klassischen Musik und den unterschiedlichen Einstellungen dazu, was musikalische Notation bedeutet. Ist es eine Art Ablaufplan, oder ist es die Heilige Schrift?“
Denn wie Clague herausfand, waren Gershwins Buchstaben offenbar gar nicht als definierte Tonhöhen gemeint, wie es jeder Musiker aus Gewohnheit erst einmal annehmen musste, sondern schlicht organisatorisch den vier Hupen zugeordnet. Die haben sich zwar leider nicht erhalten, aber ein bald darauf erstmals entdecktes Archivfoto zeigt den Komponisten und stolzen Hupen-Käufer Gershwin mit seinen Instrumenten. Dieses Foto erlaubte zusammen mit der 1929er-Aufnahme erstmals die Übersetzung der Partitur-Buchstaben in die echten Pariser Taxi-Töne und ihre Zuordnung zu den abgebildeten Hupen: As, B, hohes D und tiefes A. Da hat man also all die Jahre ganz schön danebengegriffen.




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