Ein Mysterium? Nein, DAS Mysterium. Eine Woche volle Dröhnung am Fuße des Himalayas in einer eigens gebauten Tempelanlage mit ekstatischer Musik, ätherischen Düften, ritualisierten Berührungen sowie vielen vielen bunten Farben, gefolgt von der geistigen Neugeburt aller Teilnehmer. Was sich nach benebelten Woodstock-Festival-Gedanken anhört, ist eigentlich die kompositorische Vision des ebenso bemitleidens-, wie bewundernswerten Genies Skrjabin. Ein Gesamtkunstwerk , ein kathartisches Kollektiverlebnis, ein psychedelisches Welterneuerungsevent.
Alexander Skrjabin
Die Frage „Warum?“ kann man – rein rational – nur mit „Warum nicht?“ kontern. Skrjabin hatte sich dieses Projekt einfach in den Kopf gesetzt. Spirituelle Anregungen aus theosophischen Lehren, seine synästhetische 116 Veranlagung und die Liebe zu liturgischen Prozessen nährten seine Vorstellung einer solchen gescripteten Apokalypse. Heinrich Bibers „Missa Salisburgensis“ und die Bayreuther Festspiele Richard Wagners wirken neben dem „Mysterium“ wie die Sparpläne knauseriger Stadtmarketing-Manager. Schon das Veranstaltungsgebäude scheint gewagt: „Ich dachte lange darüber nach, wie man diesen Tempel fließend und kreativ halten könnte. Und plötzlich fielen mir Säulen aus Weihrauch ein. Sie werden durch die Lichter des Lichtorchesters beleuchtet und sie werden auseinanderlaufen und sich wieder zusammenfügen!“, teilt der Komponist seinem Freund Leonid Sabanejew mit. Außerdem war sich Skrjabin sicher, die Teilnehmenden würden ihn selbst, musizierend im Zentrum des Spektakels, als Messias erkennen.
Farben im Kopf! Menschen mit dieser außergewöhnlichen, meist angeborenen Fähigkeit sehen bei Mozart rot. Oder gelb. Die Verknüpfung der Sinne Sehen und Hören wirkt sich bei jedem von ihnen unterschiedlich aus. Wenn Gershwins Rhapsody In Blue erklingt, erlebt ein Synästhetiker vielleicht ein quietschgrünes Farbspektakel. (AJ) ↩
Als er am 27. April 1915, ganze zwölf Jahre nach der ersten Erwähnung des Mysteriums, unerwartet an Blutvergiftung starb, blieben von den Plänen nicht mehr als 53 Seiten musikalische Skizzen und einige Zeilen als Libretto 118 zur „Vorbereitenden Handlung“ des Mysteriums zurück. Aus diesem Material gelang es Skrjabins Landsmann Alexander Nemtin, eine dreiteilige sinfonische Dichtung zu fertigen, die 1997 erstmals in voller Länge aufgeführt werden konnte – inklusive eines Farbenklaviers, wie es schon bei der Aufführung von Skrjabins „Prométhée. Le poème du feu“ 1915 in New York verwendet wurde.
Bizets Carmen, Verdis La traviata. Die berühmten Opern nennen wir in einem Atemzug mit ihren Komponisten. Aber wer schrieb eigentlich das Textbuch, das sogenannte Libretto, dazu? Von den Librettisten sind heute nur wenige Große geläufig, wie zum Beispiel Mozarts Textdichter Lorenzo da Ponte. Ausnahme: das Multitalent Richard Wagner. Der dichtete die Texte zu seinen Opern selbst. (AJ) ↩