Sie sind die Definition von Teufelsbrut! Die stehenden Gewässer sind ihre kuschlige Heimat, und offenkundig scheinen Beethoven & Co. die surrende Plage zur Höchstform anzustacheln. Zum Glück hat das zwei Seiten. Steht man bei den abendlichen Freilichtkonzerten der Festival-Akademie, um Sieben nach Sieben, auf dem Gras, strampelt, strauchelt und fuchtelt um sich, zum Schutz vor weiterer Körperübersähung durch Bisse, ist das der natürliche Gesprächseinstieg mit anderen Besuchern. Dann ist man schnell bei der Liebe zur Musik.
Das Publikum ist großteils aus ganz Deutschland angereist. Kein Wunder, die „Sommerlichen“ sind kurz nach dem Zweiten Weltkrieg aufgrund einer hohen Flüchtlingsdichte aus Musikern gegründet worden und somit das älteste Kammermusikfest. Und nicht allein die Tradition definiert jährlich die neun Tage zu einem Ereignis, auch die Qualität und die Mixtur des Programms aus Neu und Alt, Konzert und Vermittlung, purer Musik und experimentierwilligem Konzept-Abend schafft einen großen Freundeskreis. Oliver Wille, seit 2016 Intendant in Hitzacker, ist ein musikalischer Tausendsassa, Gründungsmitglied des „Kuss Quartetts“ und Professor für Streicherkammermusik in Hannover.
Oliver Wille, Intendant
Die Festival-Akademie Hitzacker hat sich dem musikalischen Nachwuchs verschrieben. Musiktalente in den Zwanzigern wurden teils per Ausschreibung, teils durch Universitätskontakte von Oliver Wille auserwählt, um eine Woche das Festival zu bereichern und dort bereichert zu werden. Sie spielen regulär im Abendprogramm. Der Gedanke ist eine Win-Win-Situation: Die „Sommerlichen“ schärfen damit ihr Profil als Zukunftsinvestor. Die „jungen Profimusiker“ – man achtet peinlich genau auf die Ansprache, denn häufig verniedlichen solche Akademien die Eingeladenen als „Junge Wilde“, „Nachwuchskünstler“ oder „Frischlinge“ – profitieren von Auftrittsmöglichkeiten mit etablierten Größen wie dem Pianisten Markus Becker, dem Perkussionisten Johannes Fischer oder der Streicherin Yura Lee. Zudem schickt sich der Name „Akademist in Hitzacker“ im Lebenslauf. Das kann Türen öffnen.
Die Vision ist groß: Es soll ganzheitlich gearbeitet werden – neben Meisterkursen stehen gesellschaftliches und soziales Engagement, abgedeckt durch Konzertauftritte in Schulen, vor Senioren oder für Flüchtlingen, und skills für den Musiker 2.0. auf dem Plan – durch Workshops wie Musikvermittlung, Moderationstraining, Identitätsbestimmung und Agenturbildung.
Die Akademisten werden eng in die inhaltliche Planung miteinbezogen. Vorab befüllen sie den Rahmen, der vorgesehen ist, mit Leben: Welche Stücke sollen beim Abschlusskonzert gespielt werden? Welche Besetzung? Welcher rote Faden wird gesponnen? Das entstandene Programm steht für die Ideale Hitzackers – ungewöhnlich, fordernd und intelligent. Der „Invention d-Moll BWV 755“ von Johann Sebastian Bach wird Helmut Lachenmanns „Dritter Stimme zu J.S. Bachs zweistimmiger Invention d-Moll BWV 755“ gegenübergestellt, zweihundertfünfzig Jahre liegen zwischen der Auseinandersetzung mit dem gleichen Material. Und auch der restliche Schwerpunkt liegt mit der „Fieberphantasie für Klavier, Streichquartett und Klarinette“ von Jörg Widmann und Terry Rileys „In C“ glücklicherweise im 21. Jahrhundert. Sowohl die Stücke wie auch die Spielweise lassen kaum Wünsche offen. Becker, Fischer und Lee, die etablierten Künstler, stechen kaum heraus. Besser hätte es nicht sein können.
Angesichts der Akademiedauer von sieben Tagen bleibt der Wunsch nach Ganzheitlichkeit lediglich eine Idee. Die dreizehn Akademisten lernen in erster Linie, was es bedeutet, nach einem maximal dicht mit oben genannten Programmpunkten gefüllten Tag abends noch frisch und professionell aufzutreten. Der Umgang mit Druck ist enorm, denn Verschnaufpausen gibt es in Hitzacker selten. Zu selten. Vor dem Abschlusskonzert ist der Geräuschpegel beim Essen niedrig, die Musiker hängen auf ihren Stühlen, geschlaucht, gestresst und angespannt. So ist das freilich immer, das ganze Musikerleben lang.
Das musikalische Niveau ist – nicht überraschend – sehr hoch. Das ist es nach kundigen Aussiebungsverfahren immer. Irene Schwalb, einstige Bratschistin beim Minguet Quartett und nach verletzungsbedingtem Abbruch der renommierten Karriere und folgendem beruflichem Reset nun Agentin und Konzertveranstalterin, macht im Workshop „Agenturbildung“ klar, dass es um das „Musikmachen“ aber immer weniger geht. Auf ihre nüchterne und taffe Art zeichnet sie ein realistisches Bild der Klassikbranche, mit allen Farben, Licht und vor allem viel Schatten.
„Wenn ein Veranstalter einen Einspringer für ein Konzert sucht, und ihr per Mail eine Anfrage erhaltet, müsst ihr schnell, professionell und organisiert sein. Nicht erst viel später und am besten noch mit Ausreden gespickt antworten.“
Irene Schwalb, Workshopleiterin „Agenturbildung“
„Euer Tag sollte zur Hälfte aus Üben bestehen, den Rest müsst ihr Mails schreiben, Telefonieren, eure Website pflegen oder euch mit anderen Dingen rumschlagen“, sagt Schwalb. Worte über das musikalische Niveau fehlen in ihrem Monolog. Das ist bitter. Aber die ungeschönte Realität. Über eine Karriere entscheidet nicht das Können, sondern Netzwerken, Glück, Beharrlichkeit beim Intendantenklinkenputzen und Selbstinszenierung. Neues erzählt sie den Akademisten, laut deren Aussagen, dabei nicht, aber es ist eine schonungslose Ermahnung, ein Rundumschlag aus Dingen, die man nicht tun sollte.
Das Problem ist die Vielfalt. Hitzacker will zu viel – viele Konzerte der Akademisten, viele Proben, viele Workshops. Hätte man sich beispielsweise anstatt eines Kurzvortrages von Schwalb dem Thema „Wie schaffe ich den Karrierestart“ die ganze Woche gestellt, inhaltlich gezielte Schwerpunkte gesetzt mit Website-Spezialisten, mit Coaches, die einzeln mit den individuellen Bedürfnissen der Akademisten umgehen, oder Fotografen, die zeigen, worauf es beim visuellen Auftritt ankommt, dann hätte man ein einziges Thema in der Tiefe einmal durchdekliniert. So bleibt es teils bei Allgemeinplätzen. Andererseits gibt es Dinge, die man nicht zu oft sagen kann. Sie müssen im Musikergedächtnis verankert werden. Dafür ist die Festival-Akademie perfekt. Als Impuls.
Freiräume fehlen überall und auch hier in Hitzacker, dabei sind die Akademisten ein Geschenk! Die Mischung scheint eine kundige Stichprobe von existierenden Musiktertypen zu sein: vom zielstrebigen Karrieristen über den quergeistigen Musicus zum tapsig Ellenbogenungelenken bis hin zum unbedarft Musikverliebten und schlicht Professionellen ist alles dabei. Mit dieser genialen Zusammensetzung könnte man an der Zukunft schrauben, Visionen spinnen und für deren Umsetzung begeistern. Hier ist die Elite von Morgen geladen. Wer, wenn nicht sie könnte eine bessere Welt der klassischen Musik beeinflussen. Sie ist die Zukunft. Das harte Alltagsleben wird sie ganz von selbst einholen.
Die Instrumente der Auserwählten machen abseitiges Programm und ungewöhnliche Besetzungen möglich: 4x Geige, 2x Violoncello, 2x Klavier, 1x Bratsche, 1x Flöte, 1x Saxofon, 1x Klarinette, 1x Percussion. Die Mischung aus Holzbläsern, klassischem Streichersatz und Schlagwerk kann beliebig mit Klavier ergänzt werden – vom Duo bis zur Ensemble-Besetzung. So öffnet das Roulette andere Programmoptionen, die es nie ins Konzert schaffen. Beim Abschlusskonzert und bei einem Schulkonzert, von Yehudi Menuhins „Live Music Now“ inspiriert, spielen alle gemeinsam den „Karneval der Tiere“ von Camille Saint-Saëns. Nicht klassisch, sondern auf die Instrumente zugeschnitten, mit Ergänzungen von anderen Komponisten. Für die Kinder der Grundschule ist das inspirierend. Ganz unterschiedlich sind die Reaktionen auf die Musik – große Augen, offener Mund, hitzige Diskussionen, um welches Tier es sich wohl gerade handelt.
Gerade das Moderationskonzept, welches in kürzester Zeit entstanden ist, die hochprofessionelle Umsetzung, der Kommunikationswille mit dem Publikum und die Qualität sind herrlich! Für die Akademisten ist dieses Projekt lehrreich, auch mit dem Fundament des Workshops zum Thema. Wie interagiert man während des Spiels mit den Schülern? Wie reagieren sie? Es ist ein voller Erfolg. Die fehlende Nachhaltigkeit, die Achillesverse des modischen Musikvermittlungs-Wahns, zeigt sich dennoch schutzlos. Zu hoffen bleibt, dass das Konzerterlebnis bei den Schülern nicht allzu schnell verpufft, auch wenn dafür sicherlich ein persönlicher Dialog aller Musiker mit den Kindern nötig gewesen wäre. Das war aber nicht drin. Ab in den Bus: nächster Termin.
Nach dem Abschlusskonzert ist der Stress vergessen. Retrospektiv idealisiert man den Künstleralltag, sonst würde es vermutlich nur noch wenige Musiker geben. Die „Festival-Akademie“ würfelt Talente zusammen, die man sich merken muss, sie werden in einigen Jahren die Bühnen der klassischen Musik besetzt haben. Hoffentlich mit Weitblick, mit Wille zur Vision und Sendungsbewusstsein. Ein Impulsgeber dafür ist Hitzacker. „Liebe ist nicht privat“, sagt eine Akademistin bezüglich ihrer Hingabe zur Musik, und sie zitiert damit den Streichquartettguru Eberhard Feltz. Das ist ein radikaler Satz, eine immense Forderung an alle Menschen, die sich mit den schönen Künsten beschäftigen. Es klingt beinahe nach einem priesterlichen Amt, mit der Religion des Menschlichen. Um dem beizuwohnen und um tief in die Gewerke der Musik zu schauen, dafür muss man nach Hitzacker kommen. Für alle Besucher lohnt sich jeder einzelne, juckende und biestige Mückenstich.
© SMH / Kay-Christian Heine.