Von Jesper Klein, 11.07.2017

Neue Volks-Musik

Neue Musik ist schwer zu vermitteln. Am Starnberger See versucht es das ECHOLOT Festival mit Regionalität und Publikumsnähe. Das Konzept geht auf. Auch weil Musik miteinbezogen wird, die in der Klassikwelt eigentlich verpönt ist.

Geht es nach Gunter Pretzel, dem künstlerischen Leiter von ECHOLOT, schreibt man die Neue Musik 107 klein. Zumindest für sein Festival. Warum das überhaupt von Bedeutung ist? Weil neu eben nicht gleich Neu ist. Neu großgeschrieben, dazu gehören zum Beispiel Arnold Schönberg, Pierre Boulez oder György Ligeti. Die zählen jedoch schon lange zum musikalischen Kanon, sind mittlerweile auch schon tot.

  1. Neue Musik tut weh. Unverstanden und von einer Vielzahl romantischer Musikfans in den Elfenbeinturm des Elitarismus verstoßen, vegetiert sie als „Stiefkind der Klassik“ vor sich hin. Doch die modernen Nachfahren von Beethoven und Schönberg sollte man nicht unterschätzen– Avantgarde hat ihre Gründe. (AJ)

„Wir suchen Musiker, die bereit sind, den Deckel von ihrer Schublade aufzumachen und ins Freie und Offene zu schauen.“

Gunter Pretzel

Stattdessen setzt Pretzel auf Ungewohntes: So steht ein Abend im Zeichen bayerischer Volksmusik, ein anderer im Zeichen von Pop und Jazz. Über allem steht die Idee, dass Publikum und Künstler sich auf Augenhöhe begegnen. Bei Neuer Musik ist das nicht immer der Fall. „Die Beziehung zum Publikum ist traditionell prekär in der Neuen Musik“, sagt Pretzel. Er fordert Bodenhaftung und Augenkontakt, die Künstler sollen sich mit dem Publikum austauschen. Das soll den Hörern dabei helfen, die neue Musik zu verstehen. Klingt auf dem Papier gut, aber gelingt das auch in der Praxis?

Erster Abend: Von Schnecken und Hunden

Schon auf dem Weg zum Veranstaltungsort, Schloss Kempfenhausen am Starnberger See, wird das Publikum von einer kleinen Blaskapelle empfangen. Es sind die WUM-DADAisten. Ähnlich sonderbar wie ihr Name ist das, was sie tun: Dadaismus mit Volksmusik verbinden. Der gemeinsame Nenner: Beides wird außerhalb Bayerns nicht verstanden. Zumindest die zahlreichen Weisen und Gstanzl sind für das dialektsichere Publikum allerdings kein Problem.
Etwa 40 Menschen haben sich dem Rundgang angeschlossen, den Ruth Geiersberger, Performerin und Schauspielerin, mit einem herzhaft gesungenen „Grüß Gott beinand“ beginnt. Über Schlosshof und Kapelle geht es in den Schlossgarten. Das Konzept der Tour: Unberechenbarkeit und Desorientierung. Überall Musik, überall Geräusche. Das verwirrt und beeindruckt zugleich.

„Warum mag der Hund keine Schnecke. Sollten Hunde nicht Schnecken essen?“, fragt Geiersberger. Kurzerhand hat sie den Hund einer Zuschauerin in das Schauspiel integriert. Freie Improvisation, jetzt mit ihrem Partner Simon Rummel, Improvisationsmusiker und Klangkünstler. „Nein. Hunde sollten Hundefutter essen“, antwortet der. Geiersberger ergänzt: „Möglichst vegan.“
Die beiden wirken wie ein seit Jahren eingespieltes Impro-Comedy-Musiker-Duo, sind sie aber nicht. „Wir haben uns erst vor zwei Stunden kennengelernt“, sagt Rummel. Nach gut einer Stunde endet der kuriose Rundgang. „Es gab einen Plan, aber der hat nicht funktioniert“, zieht Rummel Bilanz. Das macht aber nichts, solange man gut improvisieren kann.

Von Tomaten und Hühneraugen

Der zweite Teil des Abends führt in die Innenräume des Schlosses. Im Rittersaal spielen die „Kusimanten“, ein Trio aus Bratsche, Cello und Gesang. Ihre Texte sind ähnlich kurios: Besungen werden zwei Hühneraugen oder die Perfektion der Tomate. Das geschieht mit einer Menge Komik und Schabernack: Bald streicht der Cellobogen über die Bratsche und umgekehrt. Ihre Musik ist eine klamaukig-verspielte Mischung mit simplen Botschaften:



Das kommt an, bester und zugleich erstaunlicher Beweis: Sogar das eher gediegene Publikum ist im Wechselgesang von Trio und Publikum ein stimmgewaltiger und zuverlässiger Partner.

Zweiter Abend: Monteverdi auf der E-Gitarre

Ein Musiker, der sich auf Neues einlässt, ist auch der finnische Jazzgitarrist Kalle Kalima. Von den Zeichnungen eines Mädchens inspiriert, das aus Syrien nach Europa floh, komponierte Kalima Stücke für E-Gitarre und Streichtrio – das ergibt gewissermaßen ein Streichquartett mit E-Gitarre als erster Violine. Die neue Formation Kallephil, bestehend aus Kalima und dem Streichtrio der Münchner Philharmoniker, brachte die Stücke im Schloss zur Uraufführung. Dass Kalima mit ihnen die verschiedenen Stimmungen der Bilder einfängt, kann jedoch lediglich vermutet werden; die Bilder wurden nicht gezeigt. Genauso direkt wie die Zeichnungen auf Kalima gewirkt haben müssen, musizierte das Ensemble die Musik zum Publikum. Immer wieder schimmerte in Kalimas Spiel die Stimme des Mädchens durch.
Im Anschluss interpretierte das Trio Kronthaler um Mezzosopranistin Theresa Kronthaler Barockarien neu und kleidete sie in modernes Gewand. Das ist eigentlich zum Scheitern verurteilt und schon aus dem Grund schwierig, dass Monteverdi, Händel und Co. für viele Texte den idealen Soundtrack eben schon geschrieben haben. Was sollen Kontrabass und E-Gitarre auch zu einer Monteverdi-Arie spielen? Die Lösung, die Kronthaler anbot, überzeugte besonders bei den englischsprachigen Nummern von Henry Purcell, etwa der Zugabe „One Charming Night“ aus Purcells „Fairy-Queen“.



Die Gefahr der Banalisierung umschifften die Musiker durch kluge Arrangements. Etwa wenn die klassischen Schlusskadenzen 246 mal mehr und mal weniger prominent durchschimmerten. Hinterlegt wurde die Musik mit Videoprojektionen der Medienkünstlerin Manuela Hartel. Sie bespielte auch den Schlossgarten, in dem das Festival mit einer mystischen Video-Musik-Performance endete.

  1. Ein Begriff, zwei Bedeutungen: In der Kadenz eines Instrumentalkonzerts zeigt der Solist ganz allein, meist kurz vor Satzende, was er an technischen und musikalischem Feuerwerk entzünden kann. Aber Kadenz bezeichnet auch die meist ziemlich starre harmonische Formel am Ende einer Komposition: Subdominante, Dominante, Tonika, Schluss! (AV)

„Wir wollen nicht die große Musikgeschichte hierherholen oder weiterschreiben. Wir wollen, dass hier etwas entsteht, das den Leuten Freude macht und sie bereichert.“

Gunter Pretzel

Gemeinsam reingehen, bereichert rausgehen

Nun, hat das Publikum diese neue Musik verstanden? Ja, wahrscheinlich. Ohne Zweifel, die Beziehung von Veranstalter und Publikum ist für dieses Festival elementar – vertraut, persönlich, ehrlich. Daher wird Pretzel auch im kommenden Jahr in die Vermittlungsarbeit investieren müssen. „Das ist ja Katzenmusik“, lautet einmal ein Zwischenruf, wohl mit einem Augenzwinkern. „Noch viel schlimmer“, ruft Gunter Pretzel zurück.
Doch die Idee, auf Regionales zu setzen, hat Grenzen, etwa die Kapazität des Schlosses. Ein anderer Veranstaltungsort ist jedoch keine Option, zu stark ist die Bindung an diesen Ort. Rund um das Schloss ist ein Festival entstanden, das man im Auge haben sollte. Auch wenn außer Frage steht, dass bayerische Weisen und Heimatfilm-Parodien spätestens an der Landesgrenze dialektbedingten Ressentiments begegnen.

ECHOLOT Festival für Neue Musik

Das 2. ECHOLOT Festival für Neue Musik fand vom 7. bis 9. Juli in Schloss Kempfenhausen am Starnberger See statt. Kein Schönberg, Boulez oder Stockhausen, stattdessen setzt das Festival auf Regionales, will zudem die Grenzen von E- und U-Musik aufheben. Und so mischen sich neue Klänge mit bayerischen Weisen – Dialektkentnisse hilfreich! Auch Popmusik ist kein Tabu. Schauplatz ist nicht nur das Schloss an sich, Schlosshof und Park werden mit Installationen und Videoprojektion bespielt. Der künstlerische Leiter Gunter Pretzel ist Bratschist bei den Münchner Philharmonikern. Veranstaltet wird das Festival von Elisabeth Carr, Leiterin der „KunstRäume am See“. Informationen unter www.echolotfestival.de.

© Andreas Rumland
© VerenaHaegler
© Gemeinde Berg


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