Von Konrad Bott, 10.12.2018

Mondo alla turca

Das Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra ist ein Ensemble von kontrolliertem Ungestüm. Nicht nur mit dieser charmant paradoxen Verbindung besitzt der Klangkörper ein Alleinstellungsmerkmal unter den ganz großen Ensembles dieser Welt.

Ein Sinfonieorchester aus Istanbul. Aha. Jemandem, der ausschließlich mit einer Türkei unter der Regierung Erdogans aufgewachsen ist, stellen sich da hundert Fragen. Alle sind sie geprägt von skeptischer Neugier. Dem selbstherrlichen Führer dieses eigentlich so vielfältigen Landes haftet bekanntlich nicht der Ruf an, ein Prophet der blühenden Kulturlandschaften zu sein. Mit ihm lassen sich eher Gleichschaltung, religiöse Gängelei und renitenter Protektionismus verbinden. Und trotzdem entstammt der Millionenstadt Istanbul ein Orchester, das – so kann man es lesen – international erfolgreich mit namhaften Solisten wie Murray Perahia, Nemanja Radulović und Daniel Hope tourt und dabei immer mehr Kritiker in seinen Bann zieht. Am 10.12.2018 spielen sie in Aachen, am 13.12.2018 in Paris. Glaubt man den Worten des Chefdirigenten Sascha Goetzel, hatten weder das Orchester noch er selbst jemals Probleme mit der türkischen Politik.

Das lässt sich auch ziemlich leicht erklären: Mit dem türkischen Staat hat das Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra nämlich gar nichts am Hut. Es ist der zentrale Kern mehrerer kultureller Einrichtungen, die Borusan, das Netzwerk der wichtigsten türkischen Industriegiganten ins Leben gerufen hat. Während in Deutschland staatliche und städtische Orchester den Ton angeben und das kulturelle Sponsoring industrieller Geldgeber immer mit Misstrauen beäugt wird, wächst und gedeiht der Kunstbetrieb in der Türkei durch Förderung privater Investoren, und so geschützt vor staatlicher Regulierung. Vereinigungen wie der Borusan Holding ans Bein zu pinkeln, könnte sich Erdogan bei aller Kontrollsucht nicht leisten.

„Es gibt ein Recht des Menschen auf Kultur, genauso wie es ein Recht auf Bildung gibt."

Sascha Goetzel

„Es gibt ein Recht des Menschen auf Kultur, genauso wie es ein Recht auf Bildung gibt.“ meint Dirigent Sascha Goetzel und lehnt sich in dem viel zu tiefen Sessel der Stuttgarter Hotel-Lobby nach vorne. „Weil alle Menschen nach der ein oder anderen Form von Kultur streben. Zeigen Sie mir ein Volk, auch abseits von dem, was wir Zivilisation nennen, das nicht zeichnet, das keine Musikinstrumente baut und über Musik kommuniziert! Ich möchte das nicht so absolut sagen, dass privat geführte Orchester die Zukunft sind. Aber ich denke, dass eine Kombination die Zukunft sein wird. Auch Firmen dürfen und sollen an der Erzeugung und Erhaltung von Kultur mitwirken. Wenn wir jetzt vom BIPO sprechen, ist der ganze Verwaltungsapparat viel schlanker als bei öffentlich geführten Orchestern. Die einzige Vorgabe für mich, die vom Vorsitz kommt, ist, den gesamten Klangkörper qualitativ weiterzubringen. Alle Entscheidungsfragen diesbezüglich liegen dann bei mir.“

Während diese Sätze aus ihm heraus sprudeln, lässt Goetze seinen Blick permanent im Raum umherschweifen. Dieser Mann von Welt, den man mit seiner lässigen Selbstsicherheit und seiner sonnengebräunten Haut eher auf einer Yacht als am Dirigentenpult verorten würde, scheint rastlos. Eine Rastlosigkeit aber, die nicht gehetzt, sondern ungeduldig fordernd wirkt, auf der Suche nach neuem Input. „Wissen Sie, die Musikerseele, ganz egal aus welchem Kulturkreis sie kommt, ist auf die Sprache der Musik fixiert. Die muss man nicht sprechen können, um sie zu verstehen, was den Austausch zwischen fremden Welten stark erleichtert. Deswegen sind Musiker oft vorurteilsfreiere Menschen, weil sie sich durchs Musizieren eine Neugier angewöhnt haben – den Willen, verstehen zu wollen.“

Dieser Wille kann in der vorlauten und vorschnellen Kommunikations- und Diskussionskultur bisweilen zu einer schweren Bürde werden. Verständnis erfordert Beschäftigung mit Menschen, Themen, Sachverhalten. Goetze ist, wie er selbst sagt, vorsichtig geworden. „Ich bin es leid, mich gesellschaftspolitisch zu äußern, weil man sofort irgendjemandes Feindbild wird. Ich möchte das nicht.“ Er verschränkt die Arme und nickt mit dem Kopf in Richtung der geschmacklos gestrichenen Wand. „Warum bin ich sofort der Feind, wenn ich sage, dass mir dieses Rot da nicht gefällt. Die Leute sollten gelassener miteinander umgehen!“ Deshalb ist es für ihn auch nicht verständlich, dass er immer wieder auf die vielen Frauen in seinem Orchester angesprochen wird. Es sind mehr als jedes große Sinfonieorchester in Deutschland je hatte. „Warum ist das ein Thema? Wir machen die Probespiele hinterm Vorhang, wie die meisten anderen Orchester auch, und die Damen, die jetzt dabei sind, waren einfach super gut. Muss man da ein Politikum draus machen?“

Dirigent Sascha Goetzel im Interview



Die Konzertmeisterin und viele der Musiker werden noch von sich reden machen.

Nein, das muss man nicht. Vor allem, wenn am selben Abend noch offenbar wird, dass diese charmante Selbstverständlichkeit des Dirigenten von der Konzertmeisterin über die Kontrabassistin bis zur Schlagwerkerin reicht. Im Beethoven-Saal der Stuttgarter Liederhalle, der übrigens eine fantastische Akustik für sinfonische Musik bereit hält, blüht das BIPO mit Nikolai Rimski-Korsakovs „Scheherazade“ und Mikail Balakirevs „Islamey“ so richtig auf. Schon wieder plagt den politisch korrekt Erzogenen die Frage, ob die Türken sich nicht komisch vorkommen, die romantisierten, ja fetischisierten Vorstellungen russischer Komponisten vom Morgenland zum Besten zu geben. Nein, tun sie nicht! Natürlich sind beide Kompositionen wirkliche Ohrenschmeichler, aber selbst mit dem Bewusstsein dafür sind die Wärme und Flexibilität des Orchesterklangs überwältigend. Die Musiker wippen und grinsen, selbst wenn sie selbst gerade nicht spielen, mit ihren Kollegen mit. Eine Spielfreude, die einmal mehr deutlich macht, wie berührend Live-Musik sein kann. Insbesondere ihre Standard-Zugabe, die schmissige Tanz-Rhapsodie des Komponisten Ulvi Erkin, ist für jeden, der einen vollen, schwer zu zügelnden, romantisch-jugendlichen Orchesterklang liebt, ein Highlight.

Ein Wermutstropfen bleibt: Ganz ohne Häme muss man den Solo-Auftritt Daniel Hopes mit der Serenade Leonard Bernsteins als glatten Reinfall betiteln. Zugegeben, das Stück ist extrem schwer. Aber eine derart nachlässige Intonation von einem der am meisten gefeierten Geiger unseres Jahrzehnts ist schon sehr schade. Verwunderlich ist vor allem, dass Hope zwar ein langjähriger Weggefährte des Istanbuler Orchesters ist, sich agogisch aber trotzdem derart rücksichtslos an dessen Tempo vorbei bewegt. Im Dialog mit dem Cello scheint alles in bester kammermusikalischer Ordnung, aber je größer der Klang wird, desto mehr scheint Hope sich zu sträuben, wie eine wankelmütige Katze und plötzlich mit seinem eigenen Entwurf des Stückes dem Orchester davonzutraben. Darüber hinaus wird im Verlauf des Abends deutlich, dass ein Soloauftritt der Konzertmeisterin sicher weitaus lohnender gewesen wäre – sauber, variabel, lieblich-herb. Sie wird, wie viele andere der türkischen Musiker und Musikerinnen noch von sich reden machen, ganz bestimmt!




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Nikolai Rimsky-Korsakov, Mikail Balakirev, Ulvi Erkin, Michail Ippolitov-Ivanov

Borusan Istanbul Philharmonic Orchestra, Sasha Goetzel

Onyx

© Ozgun Balkan


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