Von Adele Jakumeit, 23.08.2016

Attacking The Future

Alle zwei Jahre finden in Darmstadt die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik statt. Zwei Wochen lang schwirrt die Luft von neuer und neuester Musik und einem Wirrwarr verschiedener Sprachen. Hier entwickelt eine Generation junger Komponistinnen und Komponisten ihr Profil – die Generation Y.

„Wir sind eine Generation, die so viele Möglichkeiten hat wie nie zuvor.“

Ole Hübner (*1993)

Die Darmstädter Ferienkurse sind ein Mythos. Seit siebzig Jahren prägt die Institution die Neue-Musik-Szene 107 . Ikonen wie Karlheinz Stockhausen und Pierre Boulez gaben hier Kurse und Konzerte, Komponistenkarrieren nahmen ihren Anfang. Die Aura dieser glorreichen Zeiten spürt man noch heute – oder erahnt sie zumindest. Statt zwischen kreideverschmierten Tafeln und vollgekritzelten Heften sitzen die Kursteilnehmer vor ihren MacBooks, statt Thermoskannen tragen sie Coffee-to-go-Becher mit sich herum. Auch wenn ein junger Kerl mit Hornbrille wirkt, als wäre er geradewegs aus einem Archivfoto herausspaziert, sieht doch alles ein bisschen lockerer aus, und ein bisschen weniger schwarzweiß. Die Begeisterung für das Neue und Gewagte und die Liebe zur Arbeit mit Klang scheint aber bis heute dieselbe zu sein. Eine Begeisterung, die man den Kompositionsstudenten auch noch nach einem langen Tag voller Vorträge und sechs Stunden Konzertmarathon ansieht.

  1. Neue Musik tut weh. Unverstanden und von einer Vielzahl romantischer Musikfans in den Elfenbeinturm des Elitarismus verstoßen, vegetiert sie als „Stiefkind der Klassik“ vor sich hin. Doch die modernen Nachfahren von Beethoven und Schönberg sollte man nicht unterschätzen– Avantgarde hat ihre Gründe. (AJ)

Neele Hülcker (*1987)

Mit dem MacBook in die Zukunft

Attack The Future, leuchtet der neue Slogan der Ferienkurse in weißen Buchstaben auf schwarzen Jutebeuteln. Das klingt griffig und modern, kämpferisch. Es ist ein Aufruf: Traut euch! Tut was! Der Spruch klingt wie gemacht für die Komponistin Neele Hülcker, die gerade einen Sticker mit der Aufschrift GRID an ein Fahrrad klebt. GRID steht für „Gender Research in Darmstadt“, ein künstlerisches Projekt, das sich kritisch mit dem Ungleichgewicht zwischen Frauen und Männern auseinandersetzt, das bis heute in der Neuen Musik besteht – ob es um Kompositionspreise und -aufträge oder um Teilnehmerzahlen geht.

„Ich wollte eigentlich immer Bäuerin werden.“

Musik hat für Neele Hülcker wenig mit entspanntem Einkuscheln im Opernsessel zu tun. Als sogenannte Composer/Performerin führt die gebürtige Hamburgerin viele ihrer Werke selbst auf, oder übernimmt darin zumindest einen wichtigen Part. Als Kind hatte sie statt Musik aber noch etwas ganz anderes im Kopf: „Ich wollte eigentlich immer Bäuerin werden“, erzählt sie. Mit sechs Jahren bekam sie von ihrer Oma eine Blockflöte geschenkt. Sie konnte noch keine Noten lesen, also zählte sie die Grifflöcher ab und komponierte erste Stücke mit Hilfe von Zahlenkombinationen.

Kassettenrekorder und Taschengeld

Als sie neun Jahre alt war, kam dann der Kassettenrekorder mit Aufnahmefunktion, und Hülcker begann, die Klänge ihres Alltags zu erforschen. Erste Klavierstunden bezahlte sie von ihrem eigenen Taschengeld. Eine Fernsehdoku über eine Komponistin aus München inspirierte sie mit dreizehn Jahren schließlich zu dem Beruf, den sie heute ausübt. Den Drang zur Beschäftigung mit „ernster“ Musik konnten nur wenige ihrer Mitschüler nachvollziehen. „Es war einfach mega uncool, klassische Musik zu machen oder überhaupt ein klassisches Instrument zu spielen. Es gab viele, die das sehr seltsam und streberhaft fanden, aber das hat mich nicht davon abgehalten, weiterzumachen“.

Es hat sich gelohnt. Heute ist Neele Hülcker mit knapp dreißig Jahren eine erfolgreiche Komponistin. Bekannte Klangkörper wie das Ensemble ascolta spielen ihre Werke, und von Festivals wie der Münchener Biennale für neues Musiktheater bekommt sie Kompositionsaufträge. Der „typischen Neuen-Musik-Szene“ allein will sie sich aber nicht zuordnen. In ihren Arbeiten spielen andere Künste eine ebenso wichtige Rolle: „Ich finde es einfach total spannend, mich mit Klängen zu beschäftigen. Das kann in jeder Art von Szene stattfinden und muss gar nichts Elitäres sein“.



„Ich fand Filmmusik und den ganzen Popkram ziemlich stumpf und oberflächlich.“

Als Ole Hübner als Jugendlicher begann, sich mit Neuer Musik auseinanderzusetzen, war es hingegen gerade dieses elitäre Image, das ihn faszinierte. „Die Beschäftigung mit Neuer Musik war für mich in dem Alter auch eine Art, mich abzugrenzen. Neue Musik war etwas ganz anderes als das, was die meisten meiner Mitschüler gehört haben. Ich war am Anfang ziemlich dogmatisch drauf und fand Filmmusik und den ganzen Popkram ziemlich stumpf und oberflächlich.“

Als er mit vier Jahren anfing, Trompete zu spielen, begann Ole Hübner auch gleich mit dem Komponieren. Als Jungstudent kam er mit vierzehn Jahren an die Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover. Während seines Studiums begann er immer mehr, sich für Popmusik und Popkultur zu interessieren. „Das ist dann irgendwann in die andere Richtung umgeschwappt. Ich habe dann auch mit Popsamples gearbeitet und das in meine Stücke miteinbezogen.“ Ihn interessierte dabei vor allem die emotionale Wirkkraft dieser Musik. Heute hört er Popmusik genauso wie Klassik oder andere Arten von Musik. Jede kann ihn auf die eine oder andere Weise künstlerisch inspirieren. Auch im Internet findet er Anregungen. Die Vielfalt und Menge der Anknüpfungspunkte scheint unendlich. Im Austausch mit anderen Komponisten und Musikern über soziale Netzwerke entwickeln sich neue Ideen und Arbeitsweisen. Immer mehr Komponisten laden ihre Stücke bei Youtube hoch und nutzen die Videoplattform als Forum für Dikussionen und Sichtbarkeit über die engen Wände des Konzertsaals hinaus.

Pfadfinden im Datendschungel

Die Generation Y ist keine homogene Gruppe. Was sie eint, ist der selbstverständliche Umgang mit neuen Medien. Trotzdem muss sich jede Komponistin und jeder Komponist den Pfad durch den Neue-Musik-Dschungel selbst bahnen. „Wir sind eine Generation, die so viele Möglichkeiten hat wie nie zuvor, die sich aber durch diesen Wust an Möglichkeiten auch durchwühlen muss. Das ist sehr spannend, jeder von uns hat einen anderen musikalischen Background und geht da anders ran“, meint Hübner. Der 23-Jährige arbeitet mit Musikern auf der ganzen Welt zusammen. Sie organisieren sich über soziale Netzwerke. Selbst der ästhetische Diskurs hat sich ins Netz verlagert. Dabei würde es der Neuen Musik manchmal vielleicht gar nicht schaden, die Diskussionen zu öffnen und für ein breiteres Publikum sichtbar zu machen.

„Es fällt wahnsinnig schwer, mit anderen Leuten über das zu reden, was man macht, weil viele allein schon gar nicht wissen, dass es so etwas gibt“, erklärt Hübner. Er wünscht sich, dass die Neue Musik stärker nach außen getragen wird. Sie soll ihre Türen stärker öffnen und gleichzeitig ihren nicht-kommerziellen Schutzraum bewahren. „Es muss nicht sein, dass jetzt alle Leute anfangen, Neue Musik zu hören, aber jeder sollte die Möglichkeit haben, sie für sich zu entdecken.“

Darmstädter Ferienkurse für Neue Musik

Die Internationalen Ferienkurse für Neue Musik wurden 1946 gegründet. Im nationalsozialistischen Deutschland waren viele Strömungen der musikalischen Avantgarde systematisch unterdrückt und verboten worden. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatte das Land daher einiges nachzuholen. Die Ferienkurse entwickelten sich schnell zu einer der wichtigsten Plattformen für Neue Musik erst in Deutschland, dann auch weltweit, und gelten bis heute international als ein Hotspot der Szene. Das ursprüngliche Konzept der Ferienkurse besteht noch immer: Mehr als dreihundert Studierende kommen alle zwei Jahre nach Darmstadt, um Kompositionskurse oder Instrumentalklassen bei einigen der bekanntesten Dozenten der internationalen Avantgarde zu besuchen. Darüber hinaus finden im Rahmen der Ferienkurse täglich Konzerte mit zahlreichen Uraufführungen sowie Schwerpunktveranstaltungen mit Fachvorträgen und Diskussionen statt.

© Daniel Pufe/IMD Archiv
© Gerd Fierus


    NIUSletter

    Bleibt auf dem Laufenden und erhaltet alle drei Wochen unseren NIUSletter.