Von Malte Hemmerich, 27.03.2018

Gaffer beim Musikunfall

Warum hast Du geklickt? Weil Du Dir heimlich auch manchmal wieder einen echten Musik-Skandal statt eines soliden Sinfoniekonzerts wünschst!
Das hat in der Musikgeschichte schon zu aberwitzigen Momenten geführt. Wo sind die Skandale heute?

Mit 32 Jahren entscheidet ein junger Ausnahmepianist, nicht mehr aufzutreten. Lieber im Aufnahmestudio an jeder Note tüfteln, denkt er, als sich diesem gierigen Haufen Menschen auszusetzen, sich nackt zu fühlen und verletzlich. Denn: Das Publikum ist furchtbar, es wartet immer nur auf Fehler. So ähnlich soll Glenn Gould seinen Ausstieg aus dem aktiven Live-Konzertieren begründet haben. Zugespitzt: Die Menschen kommen nur ins Konzert, um einen Skandal zu erleben, die Ausführenden leiden oder scheitern zu sehen, ganz wie die Gaffer, die vom Straßenrand Unfallopfer filmen. Übertrieben?
Es wird zumindest niemand abstreiten, dass er sich beim Konzertbesuch schon öfter nach besonderen Momenten sehnt, und wenn nicht aufgrund der Musik, dann wenigstens wegen anderer Umstände, die das Ereignis aus dem Einheitsbrei der Millionen Konzerte mit klassischer Musik herausheben.

Tatsächlich funktioniert aber auch gerade so eine museale und dazu oft nicht greifbare Kunst wie die klassische Musik besonders gut über Geschichten. Das sind zuerst einmal die Komponisten-Biografien, die sich immer gut referieren lassen und die Musik zugänglicher und menschlicher machen sollen. Auf Platz zwei folgen all die vielen Anekdoten über Klassik-Skandale. Besonders beliebt: das skandalöse Konzert bzw. die im Tumult untergegangene Uraufführung. Und neben den bekannteren Schönberg- und Strawinski-Geschichten, die ja meist tatsächlich durch deren Musik ausgelöst wurden, gibt es fast schon unglaubliche Beispiele für weitaus seltsamere Konzertabende. Kostproben gefällig?

Der alltägliche Skandal

Am 4. Oktober 1923 steckt der Komponist George Antheil seine Pistole in seinen Schultergurt. Er trägt seit Jahren eine Waffe bei sich, denn es gibt kaum ein Konzert mit seinen Werken, bei dem es nicht zu Tumulten kommt. Im Notfall will sich der Komponist und Lebemann dann „den Weg freischießen.“
Und natürlich ist dieser Abend keine Ausnahme. Im Théâtre des Champs-Élysées stehen Antheils provozierende Klavierwerke auf dem Programm. Es beginnt mit Zischen in den Reihen, Menschen ohrfeigen daraufhin ihre Sitznachbarn, erste Schreie. Später fliegen rausgerissene Sitze Richtung Bühne, die Polizei muss anrücken und verhaftet viele Besucher. George Antheil spielt seelenruhig zu Ende, er ist den Skandal gewohnt und fühlt sich mit seiner Waffe sicher. Als Publikum bei seinen Konzerten auszurasten, ist zur Mode geworden.



Der versuchte Skandal

Am 17. März 1951 wird in der DDR die Oper „Das Verhör des Lukullus“ von Bertolt Brecht und Paul Dessau probeweise uraufgeführt. Richtig gehört. Man will die Wirkung des Stoffes, der nach Ansicht einiger führender Politiker zu pazifistisch gestaltet ist, erproben, bevor man die Oper auf den Spielplan setzt. Auch die Musik steht unter Formalismusverdacht. Und da man in der Volksrepublik nichts dem Zufall überlässt, übernimmt das Ministerium für Volksbildung die Kartenverteilung, an „gute und bewusste Genossen, von denen man eine gesunde Einstellung zur formalistischen Musik erwarten konnte“ Kurzum: Der Tumult soll das Stück vom Spielplan fegen. Ein inszenierter Skandal als politisches Werkzeug. Doch das geht schief: Nachdem zu Anfang noch die Buhrufe triumphieren, werden die Jubler lauter, denn viele Parteigenossen hatten die Karten schlicht weitergegeben. So ist der Bann schnell gebrochen, und Walter Ulbricht verlässt wütend und unter tosendem Applaus den Saal. Das Stück wurde übrigens trotz fehlendem Skandal in dieser Form nicht mehr aufgeführt.



Der imaginierte Skandal

„Was für ein Skandal!“, freuen sich wohl einige Pariser vor den Pforten des Theaters am 24. November 1924. Andere sind zornig. Eigentlich soll an diesem Tag die Premiere des Balletts „Relâche“von Erik Satie stattfinden, doch am Tor hängt ein Zettel „Relâche – keine Vorstellung“. „Relâche“ kann nämlich auch Ausfall bedeuten, und so ist für die Satie-Kenner unter den Besuchern schon klar: Dieser Zettel ist das Stück. Sie preisen den Einfallsreichtum und Witz des Komponisten, einige Besucher beschweren sich lautstark.
Doch beim Zettel handelt es sich wirklich um eine Absage: Tatsächlich war nur der Vortänzer kurzfristig erkrankt, und die Premiere des Stückes, ein recht konventionelles Werk, findet einige Tage später statt. Die Zuschauer langweilen sich größtenteils, in ihren Köpfen hatte die wahre skandalöse Premiere ja bereits stattgefunden.



Inwieweit es in den hier aufgeführten Skandalen wirklich um die Musik selbst geht, kann jeder für sich hören und entscheiden. Doch zeigt besonders das letzte Beispiel auf amüsante Weise, inwieweit wir als Publikum in der Deutung der Künstlerintention falsch liegen können. So unterstellt man dem Künstler oft wohl mehr Willen zum Skandal, als eigentlich vorhanden ist. Gleichzeitig fällt auf: Zumindest die letzten beiden hier genannten Skandale könnten heute, in unserem in der Aktionskunst erfahrenen und demokratischen Land, so nicht mehr vorkommen. Liegt die Zukunft der Musik-Skandale also allein in den Skandal-Künstlern? Die Empörungen rund um die englischen Moderationen des Cembalisten Mahan Esfahani in Köln sind da ein eher schwacher Ersatz für George Antheils Wild-West-Konzerte. Wünschenswerter wären Aufreger im Biotop der Avantgarde, um dieser Musik aus ihrer kleinen Filter-Bubble wieder zu mehr gesellschaftlicher Relevanz zu verhelfen, oder zumindest zu mehr Aufmerksamkeit. Echte Musik-Skandale also. Ist das Publikum heute nur zu uninteressiert, zu gleichgültig, ist die Kunst zu langweilig? Vielleicht, aber man kann es auch positiv formulieren: Es ist die Kunst-Toleranz des heutigen Publikums, die prinzipielle Offenheit neuer Kunst gegenüber, die verhindert, dass man in hundert Jahren die großen Skandalgeschichten des Jahres 2018 erzählen wird.

© pixabay


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