Musik ist schön, interessant, erhebend, nützlich. Sie ist, das ist wissenschaftlicher Konsens, Heroldin, Helferin, Heilerin – und dabei so alt wie die Menschheit selbst. Es sind die positiven Effekte dieser Kommunikationsform, die zurecht im Vordergrund stehen, wenn über Musik gesprochen wird. Kinder fördern durch Musizieren ihre Lernfähigkeit, verhaltensgestörte Menschen verbessern ihr Aggressionsmanagement, und Demenz-Patienten gelingt es, Erinnerungen und tiefe Gefühle aus dem Nebel des Vergessens zu retten. Du holde Kunst, in wie viel grauen Stunden ...!
Es sei denn, der Nachbar beschallt in aller Herrgottsfrühe das Treppenhaus mit unliebsamen Playlists. Das ist dann unlustig, und im schlimmsten Fall drohen schlaflose Stunden und Diskussionen mit dem Störenfried. In solchen Momenten verflucht man sie, die Musik, und kommt schon mal auf den Gedanken, am nächsten Tag um 5:45 Uhr zurückzuschießen. Und während man innerlich zum Kriegstreiber mutiert, drängt sich die Frage auf: Wie ist das eigentlich, Menschen mit Musik weh zu tun?
Realität ist, dass Musik auch für destruktive Zwecke genutzt wird, weil sie derart unmittelbar auf Körper und Geist wirkt. Für einige – Konsumenten und Künstler gleichermaßen – ist es gerade das, was die Musik von allen Kunstformen zur interessantesten macht. Die Trösterin, die zur Peinigerin wird: in den Kampfhandlungen der Weltkriege, in der demilitarisierten Zone Koreas, in den Gefängniszellen Abu Graibs. Mit Musik zu foltern, ist ebenso perfide wie wirksam. Dabei sind es verschiedene Ebenen, auf denen Musik ihr destruktives Potential entfaltet. Zum einen führen Lautstärke und Dauer der Beschallung zu körperlichen und psychischen Schäden des Delinquenten, weil sie ihn zermürben und ermüden. Ein ehemaliger Häftling aus Guantanamo beschrieb dies einmal als Gefühl, als wäre er mit Hämmern geschlagen worden. Doch im Gegensatz zu Hammer, Skalpell und Zange hinterlassen Schallwellen physisch keinerlei Spuren. Deshalb spricht man von „weißer Folter“, bei der sich die Folternden nicht besudeln.
Die psychologische Kraft der Musik wirkt vielfältig und ist bei weitem nicht vollständig erforscht. Nachweisbar ist, dass sich Musik mehrfach im Gehirn mit anderen Sinneswahrnehmungen verquickt und, je nach Intensität, unauslöschbar festsetzt. Durch den kleinsten musikalischen Impuls können diese Erinnerungspäckchen herausgekramt und geöffnet werden. Prominentes Beispiel ist der zum Krüppel geschlagene Mann in Stanley Kubricks „A Clockwork Orange“, dessen Frau zur Melodie von „Singing In The Rain“ vor seinen Augen vergewaltigt wurde. Erst an der Melodie dieses Musical-Evergreens, den Hooligan Alex auf den Lippen trägt, erkennt er den Peiniger seiner Familie wieder und erleidet einen Nervenzusammenbruch.
Das Limbische System, in dem sich die Musik mit anderen Wahrnehmungen zur Erinnerung vereinigt und festsetzt
Dass das amerikanische Militär vor allem bei der Folter von islamistischen Terroristen Musik verwendete, zielt allerdings noch auf einen weiteren Punkt. Die „holde Kunst“ wird in verschiedenen radikal-konservativen Strömungen des Islam ausschließlich in religiösem Kontext toleriert. Deshalb wird zufällig ausgewählte Musik von ihrer, falls überhaupt vorhandenen, Bedeutungszuweisung getrennt und mit einer neuen aufgeladen: Häresie! Damit wirkt sie als Kommunikationsform umso direkter. Die Dauerbeschallung mit weltlicher Musik – Björk, Talking Heads, Schostakowitsch, völlig egal – entfaltet sich als Sünde, welcher der Delinquent nicht entgehen kann.
Im Gegensatz zum Gefolterten kann sich jeder freie Mensch von Musik, die ihm langfristig Unwohlsein oder Schmerzen verursacht, abwenden. Als Folter kann Musik – sei sie so unerträglich, wie sie will – nur dann bezeichnet werden, wenn man nicht die Option hat, ihr zu entfliehen. Nur selten ist es die erklärte Intention des Künstlers, dem Publikum existenzielle Ängste zu bescheren, und noch seltener, ihn mit seiner Musik zu traumatisieren. Gerade deshalb kann es sich in Bezug auf neue Stücke manchmal lohnen, als Zuhörer von seinem Rückzugsrecht nicht vorschnell Gebrauch zu machen. Und dieses Recht sollte wirklich jedem zustehen.
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© Sylwia Wichary