Von Hannah Schmidt, 19.12.2016

Klangorkan

Renaissance-Musik für 40 Stimmen und ein eingespieltes Ensemble, das 450 Jahre nach ihrer Entstehung eine Aufnahme davon macht: The Cardinall’s Musick unter Andrew Carwood leistet mit „Spem in Alium“ einen wichtigen Beitrag zur Interpretationsfrage Alter Musik.

„Spem in Alium“ ist Thomas Tallis’ monumentalstes Werk, eine Elefantenmusik für 40 voneinander unabhängige Stimmen. Im Jahre 1573 werden den Zuhörern bei der Uraufführung die Münder offen gestanden haben – unabhängig davon, ob sie die Entstehungsanekdote kannten: Vermutlich schrieb Tallis sein Werk nämlich in einer Art Übertrumpfungs-Wettbewerb mit seinem Zeitgenossen Alessandro Striggio. „Zu Königin Elisabeths Zeit wurde ein Gesang zu 30 Stimmen nach England geschickt (woraufhin sich die Italiener die Meister der Welt nennen ließen)“, heißt es in einem Manuskript des Rechtsstudenten Thomas Wateridge. Gemeint war vermutlich Striggios (nicht 30- sondern) 40-stimmige Motette „Ecce beatam lucem“. Tallis‘ Komposition für acht fünfstimmige Chöre, die nach 40 Takten erstmals in einer Art klanglichem Orkan alle zusammen singen, ist eine gigantische Aufgabe für Sänger, Chöre und Dirigenten – Tallis dürfte den Wettbewerb mit Striggio, zumindest was den Effekt seiner Musik angeht, gewonnen haben.

Überwältigung durch Monumentalität

In der im Dezember erschienenen Aufnahme des Ensembles The Cardinall’s Musick unter Andrew Carwood tritt genau dieser Aspekt in den Vordergrund: Überwältigung durch Monumentalität – aber im Jahr 2016. Vorsichtig fügen sich die Stimmen in dieser Aufnahme ineinander, passen sich in ihrem Klang und ihrer Dynamik einander an und treten an ausgesuchten Stellen als Melodiestimmen hervor. Linear, also jede Stimme als harmonisch unabhängig von allen anderen, hört wohl niemand mehr – dabei ist das Werk auf diese Weise komponiert. Nur: Ist es die Aufgabe einer solchen Aufnahme, der angenommenen ursprünglichen Aufführungsweise gerecht zu werden? Zumal der räumliche Klang – eigentlich stehen die Chorsänger im Halbkreis um ihre Zuhörer herum, sodass sich im Konzert ein beeindruckender Rundumklang ergibt – auf einer CD-Aufnahme kaum zu erzeugen ist.

The Cardinall’s Musick und Andrew Carwood finden einen gelungenen Mittelweg: Die Art, wie die Ensemblemitglieder singen, ist athletisch, klar und rein, sehr „englisch“ in der Chortradition, ein Klang ohne viele Tiefen, mit teilweise spitzen, aber dominierenden Höhen und vibratolosem, schwebendem Timbre. Wie in einer Kirche schwimmen die Melodielinien in großer Akustik ineinander, über die Pegelung wurde versucht, den Effekt des im Halbkreis aufgestellten Chores nachzuahmen. So bleibt eine Ahnung von dem, wie es im Konzert klingen kann und an manchen Stellen auch davon, wie von Tallis beabsichtigt die linearen, voneinander unabhängigen Melodien ihre Geschichten erzählen und wellenartig zu faszinierenden Klängen ineinanderfließen können.



Wellenartige Klänge, unabhängige Geschichten

Die Aufnahme kombiniert das Mammutstück „Spem in Alium“ mit für reformierte Andachten komponierten Liedern, darunter einigen der ersten in englischer Sprache wie „Verily, Verily I Say Unto You“, „Blessed Are Those That Be Undefiled“ und „Remember Not, O Lord God“. Die CD ist eine abwechslungsreiche musikalische Zusammenstellung, die durch die Kombination von frühen und späten Aufnahmen (typisch für seinen Spätstil: „In ieiunio et fletu“) auch zeigt, wie sich Thomas Tallis‘ kompositorisch in seinem Leben entwickelt hat.




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Thomas Tallis

Spem in Alium u.a.

Andrew Carwood, The Cardinall´s Musick

Hyperion

© Mike Hayes/wikimedia.org/CC0


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