Klartext wäre besser gewesen, denn mal wieder ist ein Missverständnis der Auslöser allen Übels: Lavinia und Aeneas lieben einander, doch wagen es sich nicht deutlich genug zu sagen. So glaubt Lavinia, Aeneas spreche von einer anderen, als er ihr von seinem vergebenen Herzen berichtet. Und dies sorgt natürlich für große emotionale Turbulenzen. Dass Lavinia zudem bereits mit Turno verlobt ist, macht die Sache auch nicht einfacher, denn der liebt sie heiß und innig (oder ist es politisches Kalkül, das ihn treibt?), während sie ihm nur mit grausamer Kälte immer wieder versichert, dass er zwar ihren Körper, nie aber ihr Herz bekommen könne. Liebeschaos pur! Und Amor, ein blondgelockter, magerer Knabe, den Regisseur Ingo Kerkhoff dazu erfunden hat, schaut bei all dem stumm und bleich zu. Dabei war er es, der mit seinen Liebes-Pfeilen das Dilemma erst verursachte.
Soweit der inhaltliche Kern der Mythen-Handlung von Agostino Steffanis Barock-Ausgrabung 27 „Amor vien dal destino“ – übersetzbar etwa mit „Die Liebe kommt vom Schicksal“. Doch dieser Stoff von Ortensio Mauro nach Episoden aus Vergils „Aeneis“ dient ohnehin nur als Vehikel für das eigentliche Thema: eine Erkundungsreise in das Chaos der menschlichen Triebe, Wünsche und Gefühle.
René Jacobs, einer der erfolgreichsten musikalischen Schatzgräber unserer Zeit, hat Agostino Steffanis „Amor vien dal destino“ von 1690 nun in England ausfindig gemacht, die Oper leicht gekürzt und ediert. Mit der Akademie für Alte Musik Berlin und handverlesenen Sängern hat er sie zu seiner diesjährigen Barock-Produktion an der Staatsoper Berlin auserkoren. Eine lohnenswerte Entdeckung, wie man schon nach den ersten Klängen hört:
Reifrock, Puder, Mätressen und Schampus. Willkommen im Barock. Musikalisch endet diese Epoche mit dem Tod von Johann Sebastian Bach. Die Musik ist mathematisch komplex geführt, ergötzt sich an Verzierungskunst und wurde häufig für die Kirche komponiert. Der Barock bietet aber mehr als Schwulst und Erhabenes. (CW) ↩
In dieser Oper, die zuletzt vor 300 Jahren am Düsseldorfer Hof aufgeführt wurde, erforschte Steffani, der in Italien geboren wurde, aber lange in Deutschland lebte, die Bandbreite barocker Affekte mit einer Fantasie und einer kompositorischen Versiertheit, die ihresgleichen suchen. Auch nach René Jacobs Streichungen dauert die Oper noch fast vier Stunden, in denen aber Ohrwurm-verdächtige Arien 102 , ergreifende oder dramatische Duette, Chöre und schillernde Rezitative 109 mit einer solchen emotionalen Kraft auf das Publikum einprasseln, dass man die Zeit schlichtweg vergisst. Und das vor allem dank der grandiosen Solisten, die René Jacobs vom Orchestergraben aus souverän zu Höchstleistungen antreibt.
Wie sprechen, nur schöner: In der Oper unterhalten sich die Menschen singend. Während sie im Rezitativ versuchen, möglichst viel Handlung zu erzählen, dürfen Papageno, Carmen und Co. in der Arie ihren Gefühlen Luft machen. Herausgelöst aus der ursprünglichen Geschichte wurden diese Schmuckstücke manchmal berühmter als die Oper selbst. (AJ) ↩
Diese vornehme Schwester des Rap ist eine Art melodisch und rhythmisch notierter Sprechgesang, begleitet entweder von einer kleinen Instrumentengruppe aus Cembalo und Bassinstrumenten (Secco-Rezitativ) oder dem Orchester (Accompagnato-Rezitativ). Anders als in der Arie, wo die Figuren ausgiebig in ihren Gefühlen schwelgen, treibt es die Handlung voran. (AJ) ↩
Glaubwürdige Liebesverzweiflung
Olivia Vermeulen singt in der Hosenrolle 55 des Turno glasklar und mit glaubwürdiger Liebesverzweiflung den verschmähten Verlobten. Das dunklere und wärmere Timbre der Altistin Katarina Bradic in der Rolle der Lavinia bildet dazu einen spannenden Kontrast. Und Robin Johannsen brilliert mit ihrem virtuosen, dabei sehr schlanken Sopran sowohl als Venus als auch als irritierende, aber doch charmante Schwester der Lavinia. Auch Jeremy Ovenden als griechischer Held Aeneas kann durchwegs punkten durch mühelose Stimmbeherrschung und darstellerische Glaubwürdigkeit. Eine wahre Luxus-Besetzung also, die durch die versierten Musiker der Akademie für Alte Musik getragen und beflügelt wird.
Kann auf der Opernbühne schon mal für Verwirrung sorgen: Eine Opernsängerin schlüpft in Hosen. Und dann spielt sie auf der Bühne eine Männerrolle. Was zu Zeiten Mozarts und Händels noch ungewohnt war, erinnert heute etwas an gezwungenes Verkleidungsspiel. (MH) ↩
Die weiß geschminkten Gesichter, Masken und Reifröcke der Inszenierung von Ingo Kerkhoff greifen dabei zwar auf traditionelle und etwas überstrapazierte Regie-Topoi für Opern der Barockzeit zurück. Doch Kerkhoff setzt die Mittel wohltuend sparsam ein und schafft mit ihnen eine zeitenthobene Ästhetik. Da passt es auch, dass Amor als Gärtner mit traumwandlerischer Langsamkeit die Bühne nach und nach in ein dichtes Ähren-Feld mit ausgestopften Füchsen verwandelt und ganz nebenbei Schilder verteilt mit Aufschriften, die die Konflikte der Herzen auf den Punkt bringen: „Liebeswahn“, „Liebesmüh“, „Liebesglück“ und „Liebestod“. Im Vordergrund explodieren derweil die Gefühls-Dramen. So bleibt die Musik die unbestrittene „Herrin“ an diesem sinnenprallen Abend. Standing Ovations nach vier Stunden musikdramatischer Höchstleistungen.
„Amor vien dal destino“ in der Inszenierung von Ingo Kerkhoff läuft nochmal am 4. und 7. Mai, jeweils um 19 Uhr, im Schillertheater. Weitere Informationen und Tickets gibt es hier: www.staatsoper-berlin.de.