Zu den schönen Dingen des Älterwerdens gehört es, dass man nicht mehr alles gut finden muss. Den Hype um Helene Fischer etwa, der weite Teile der Gesellschaft quer durch alle Lebensalter und Berufsabschlüsse ergriffen hat, erlaube ich mir zu ignorieren. Dabei kann man in diesem Super-Sommer kaum drum herum kommen, von allen Seiten mit poppig-bunten Gute-Laune-Songs beschallt zu werden. Ach was – billige Gemütsmassage! Brauch ich doch nicht. Bis wir mit den Nachbarn, aus Enttäuschung über den schnellen Spannungsverlust bei der Fußball-WM, halb ironisch aufgekratzt beschließen, die Fernsehabende in lauer Luft mit der Verfilmung des Abba-Musicals „Mamma Mia“ fortzusetzen. Dazu gibt es passend zum griechischen Setting Bauernsalat und Gyros vom Grill.
Ist es die ausgelassene Stimmung, der Wein? Ich merke, dass mich die Songs weit mehr berühren und entfachen, als ich gedacht hätte. Und das trotz der inhaltlich völlig albernen, wenn auch charmant inszenierten Handlung. Beim genauen Zuhören fällt mir auch erstmals auf, dass manche der späteren Songs mit relativ komplexen Strukturen experimentieren. „The Name Of The Game“ lässt beispielsweise bei der letzten Wiederholung des Refrains (ab 04:08) den Backgroundchor Zeilen der Strophen dazwischenschieben – und beides fügt sich ineinander wie ein Zahnrad.
Es handelt sich dabei um ähnliche Satztechniken wie jene, die mich heute noch in Johann Sebastian Bachs Passionen begeistern, etwa wenn sich in die Bariton-Arie „Mein teurer Heiland, lass dich fragen“ der, nun ja: Backgroundchor mit dem Choral „Jesu, Deine Passion“ passgenau hineinschiebt und für einen Hör-Overkill an Gleichzeitigkeit sorgt.
Nun ist es ja keine Sünde, sich zu Abba-Songs zu bekennen, deren Qualität im Großen und Ganzen anerkannt sein dürfte. Doch ich frage mich, ob mein musikalisches Urteilsvermögen vielleicht auch der Befangenheit verdächtig sein könnte, weil mich diese Songs dank älterer Geschwister tatsächlich schon in den Jahren ihrer Veröffentlichung zwischen 1977-1981 umgaben. So wurden sie ganz selbstverständlich Teil meiner Hörbiografie, ganz ohne dass ich sie ausgewählt habe. Also begebe ich mich auf eine Reise zurück und treffe ein paar sehr alte Bekannte.
1977, da war ich drei Jahre alt, erschien der Titelsong zur Zeichentrickserie „Heidi“ als Single, interpretiert vom Odenwälder Duo „Gitti und Erica“. Meine Eltern hatten die Platte gekauft und ich erinnere mich, dass ich sie mehrere Jahre mit Begeisterung hörte – auf unserem todschicken, quietsch-orangenen Philipps-Schallplattenspieler, mit in die Abdeckung integriertem Lautsprecher. Dass es sich um Meterwaren-Schlager handelte, der Alpenversatzstücke und dudelnde Klarinetten über das übliche Pop-Schema aus Strophe, Refrain und Bridge presste, hörte ich nicht. Vielmehr war ich angetan von der sich daraus zwingend entfaltenden musikalischen Logik, in der jeder Tonartenwechsel die Tür zu einem neuen Raum auftat. Die B-Seite enthielt ein besonders übles Stück schunkelseligen, volkstümelnden Schlagers, „Sonne im Herzen“. Aber wenn man die Auftaktjodler erfolgreich überstanden hat, belohnt einen der Song schon nach 33 Sekunden mit einer (im Schlager nicht einmal so seltenen) Rückführung über die Doppeldominante, die mir damals aber wonnige Gänsehaut bereitete.
Nino de Angelo
Schwerer zu erklären fällt mir da schon, was mich mit 9 Jahren an Nino de Angelos Beitrag von 1983 faszinierte. Er trat in mein musikalisches Leben im Rahmen der damals völlig selbstverständlich familienübergreifend verfolgten Hitparade mit Dieter Thomas Heck: Ein relativ dümmlich-betroffener Gesichtsausdruck zu vorgeschobener Schmolllippe, dazu gel-glänzende Locken und ein Text, der auf Ameisenkniehöhe dahindümpelt und sich frecherweise nicht mal die Mühe macht, sich zu reimen. Aber die (heute schrecklich nach Soundfile-PVC klingenden) Orchesterschläge aus dem Synthesizer fand ich irgendwie ungemein dramatisch! Lief rauf und runter auf dem neuen Cassetten-Recorder.
Wer jetzt herablassend grinst, sollte sich vergegenwärtigen, dass die ganz kitschunverdächtigen „Ärzte“ den Song schon drei Jahre später coverten, ohne jedes Zeichen von Ironie.
Ich staune über die Unvoreingenommenheit, mit der ich mir damals die Schönheiten der Musik aneignete. Kinder sind ja auch deshalb so unbestechliche Kritiker, weil sie sich den vermeintlichen Wert einer Sache nicht über soziale Faktoren einreden lassen, etwa „das ist ein Meisterwerk, wem das nicht gefällt, hat keine Ahnung von großer Kunst.“ Genauso wenig lassen sie sich von vermeintlichen Geschmacklosigkeiten abschrecken: was zählt ist, ob es sie begeistert, ob es ihnen gefällt. Oder etwas daran. Denn ein Muster kann ich schon erkennen: mal war es eine Wendung der Melodie, die mir nicht aus dem Kopf ging, mal eine besonders aufreibende Abfolge von Harmonien, manchmal die dramatisch auf Hochspannung gelegte Besetzung oder eine tragische Grundnote. So auch in Abbas Song „The Day before You Came“.
Obwohl ursprünglich bewusst beiläufig vorgetragen, offenbart sich im Soundtrack zum zweiten Aufguss des Abba-Musicals, dass die Musik des Songs durchaus das Potential zu einer düster-verhangenen sinfonischen Rhapsodie in sich trägt. All diese Dinge begeistern mich noch immer an Musik, auch wenn ich inzwischen eher Mahler höre als Schlager. Aber wer wäre ich heute, wenn ich nicht zumindest in jungen Jahren einmal die unverstellte Neugier gehabt hätte, ihnen zu folgen – auch wenn sie mir bei schunkelnden Dirndeln begegnen?