Ist „Fity Shades of Grey“ ein Aufruf zu häuslicher Gewalt, oder vielmehr ein horizonterweiternder Beitrag zur #metoo-Debatte? In einem mutigen Artikel auf ZEIT Online versucht sich Wenke Husmann an einer neuen Deutung der Romanserie von Erika Leonard alias E. L. James. Deren fünfter Band dieser Edelausgabe des Ärzteroman-Klischees ist soeben auf Deutsch erschienen. Das Rollengefälle zwischen dominantem Mann und sich hingebender Frau gilt in der breit geführten #metoo-Debatte derzeit als Brutzelle gesellschaftlicher Schieflagen und systemischer Unterdrückung. Doch Husmann führt an, von einem aus Lust besinnungslosen Mann überwältigt zu werden wäre genau jene Vorstellung, die viele Frauen gedanklich so richtig in Wallung bringt. Und deshalb auch die Romanserie so erfolgreich macht.
Entscheidend dabei ist ein feiner Grat – die Grenze zwischen Wirklichkeit und Fantasie. Niemand möchte real vergewaltigt oder gegen seinen Willen zu etwas gezwungen werden. Doch darum geht es im Roman auch nicht. Denn die beiden Protagonisten spielen ihre Rollen im Gefüge von Dominanz und Unterwerfung in scharfer Abgrenzung zu ihrer Alltagswelt. Im Spielraum aus Absprachen kann sich die Protagonistin selbst solchen Fantasien aussetzen, die in der Realität höchst bedrohlich für das Subjekt und seine seelische Unversehrtheit wären. Darin liegt ein enormer Kitzel.
Und genau diesen bietet auch das Einlassen auf Musik: Für alle, die nicht bei Streicherseide und Mozartkugel stehen bleiben wollen, kann die Klassik einen abgründigen Darkroom der Emotionen eröffnen, den es zu durchstreifen lohnt. Und das geht schon los beim Salzburger Wolferl, etwa im Mittelsatz des A-Dur-Klavierkonzerts. Was als melancholisches Wiegenlied beginnt, endet jäh im Leeren mit einem Absturz auf das tiefe Fis. Hier wird Verzweiflung ausgekostet.
Genau das aber macht für mich klassische Musik zu einem guten Teil so kostbar: Dass sie die Welt mit all ihren Schattierungen zu fassen vermag und ich mich Emotionen und Erfahrungen aussetzen kann, die ich in der Realität nicht freiwillig aufsuchen würde. Dazu gehört die liebeswunde Todestrunkenheit von Tschaikowskis Sechster Sinfonie. Das infernalische Weltende bei Richard Wagners „Götterdämmerung“. Oder das erbarmungslose Rattern von Maschinengewehrsalven in Benjamin Brittens bewegendem Anti-Kriegs-Oratorium „War Requiem“.
In der Musik gelingt mir beides, spielerisch auf Höhenflüge zu gehen und tiefste Verzweiflung auszuhalten. Das hat übrigens durchaus auch reale Auswirkungen: Studien zum mentalen Training bei Sportlern haben aufgedeckt, dass das Gehirn beim Testlauf in der Fantasie fast dieselben Reaktionsmuster aktiviert, als würde die Situation tatsächlich durchlebt. Die Grenzen sind ohnehin fließend, denn aus was setzt unser Bewusstsein das Bild der Realität zusammen, wenn nicht aus lauter interpretierten Wahrnehmungen? Wir sitzen also sowieso den ganzen Tag im Umwelt-Simulator.
Es kann spannend sein, die eigene Sicherheitszone zu verlassen und dabei den Umgang mit persönlichen Grenzen und Grenzsituationen zu trainieren. Egal ob Bondage-Geplänkel zur Erweiterung der persönlichen Graupalette oder das Weltenende als orchestrales Inferno bei Wagner: Fantasie ist unser Universalschlüssel zur Realität.