Von Jonas Zerweck, 28.06.2018

Verjüngungs-Kur

Ins verschlafene Bad Kissingen kommen die großen Musikstars. Aber was ist, wenn die alte Künstlergeneration nicht mehr ist? Der Intendant Tilman Schlömp setzt auf Nachwuchs, lädt eine Legende ein und fordert das Publikum auf zur Offenheit für Neues. Die niusic-Reportage.

Mitarbeit: Malte Hemmerich

Mit einer gewissen Anspannung atmet die junge Pianistin Luisa Imorde noch einmal durch, kommt zur Ruhe. Dann beginnt sie. In ihrem Rücken, leicht links versetzt, beobachten und belauschen sie die Augen und Ohren einer Klavierlegende: Menahem Pressler lässt Imorde Mendelssohns „Variations sérieuses“ ohne Unterbrechung durchspielen. Ab und an wirft er mal Bleistiftstriche auf die Notenseiten vor ihm, wippt leicht zur Musik, schließt stellenweise die Augen, hört konzentriert zu. Und als Imorde den letzten Akkord gerade verklingen lässt, ist er es, der laut mit dem Applaus beginnt. Die folgenden etwa dreißig Minuten ist Pressler dann voll des Lobes für Imorde, ihm gefällt ihre technische Souveränität, ihr leichter Anschlag, doch er korrigiert auch: mehr Ernsthaftigkeit bitte in diesen „Variations sérieuses“, durch ein gefassteres Tempo; an den in den Noten angegebenen Stellen noch weiter zurück ins Pianissimo gehen! Pressler bleibt mit seinen Anmerkungen nah an der Partitur, vor allem an der Dynamik und Phrasierung arbeitet er.

„Wir wollen den jungen Künstlern mehr bieten und ihnen verbunden bleiben: mit Meisterkurs und Rezital“

Tilman Schlömp

Imorde ist bereits eine Bekannte in Bad Kissingen. Im letzten Herbst hatte sie beim „Kissinger KlavierOlymp“ teilgenommen, den Publikumspreis gewonnen und darf nun mit ihren fünf Klavierkollegen zum Festival „Kissinger Sommer“ kommen. Das internationale Musikfestival findet seit 1986 in der Kurstadt statt, und auch der damit verbundene „KlavierOlymp“ ist seit 2003 eine erfolgreiche Institution mit ehemaligen Teilnehmern wie Igor Levit oder Herbert Schuch.
Unter dem neuen Intendanten Tilman Schlömp, der das Festival nun im zweiten Jahr verantwortet, soll die Pianistenförderung als wichtiger Bestandteil des „Sommers“ stärker mit dem Festival verknüpft und zum Element werden, das das Festival von anderen abgrenzt und unverwechselbar macht. Vorspiel, Preis und Tschüss, so soll es hier nicht sein. „Wir wollen den jungen Künstlern mehr bieten und ihnen verbunden bleiben: mit Meisterkurs und Rezital“, sagt Schlömp und beteuert, dass das Publikum hier in Kissingen auch großes Interesse daran hege, die nächste Musikergeneration mitzuentdecken. Auch wenn er gleichzeitig zugeben muss, dass diese Solorezitals der jungen Unbekannten noch weit weniger Publikum anziehen als die Konzerte der großen Stars.

Preisträgerkonzert im Kloster

Als im etwa zwanzig Kilometer entfernten Kloster Maria Bildhausen drei der jungen Olympioniken ihr Konzert spielen dürfen, wird am ehesten deutlich, dass die Festivalbesucher des „Kissinger Sommers“ noch nicht ganz soweit sind. Verhältnismäßig wenig Publikum fährt mit raus. Die Angereisten jedenfalls dürfen hier drei völlig verschiedene Programme erleben. Das spannendste sicherlich spielt Luisa Imorde. Sie kombiniert „Elf Humoresken“ von Jörg Widmann mit sechs Stücken von Robert Schumann. Klug konzipiert werden so die Bezüge von Widmanns Zyklus zur Inspirationsquelle Schumann hörbar, beispielsweise durch sehr ähnliche Motive. Das Publikum geht Imordes Weg tapfer mit, auch wenn manch lautes Ausatmen dem Unbehagen mal Luft machen muss.
Mit deutlich süffigeren Stücken tritt Jean-Paul Gasparian auf. Eine Mozart-Sonate, Chopins Polonaise-Fantaisie und seine vierte Ballade meistert er technisch beeindruckend, verliert sich aber in ihrer Struktur – gerade bei Chopin. Und schließlich donnert Sergei Redkin Prokofjews achte Sonate in die kleine, klösterliche Halle. Seine Präzision, Kraft und Virtuosität lassen staunen.
Trotz aller technischen Qualität fällt doch auf, dass dem Spiel der jungen Pianist*innen noch Erfahrung und Reife fehlen, um sich auf Augenhöhe mit der gestandenen Konkurrenz messen zu können.

Eine andere Tastenkollegin ist da weiter, geht aber deutlich weniger programmatisches Risiko ein. Khatia Buniatishvilli tritt gemeinsam mit den Wiener Symphonikern im Max Littmann-Saal auf und spielt: Tschaikowskis erstes Klavierkonzert. Zum Thema des Festivals, „1918 – Aufbruch in die Moderne“, passend präsentieren die Symphoniker in der zweiten Hälfte den „Feuervogel“ von Strawinski; Moderne light, wie Schlömp leicht lächelnd zugibt. Das Kissinger Publikum, festlich gekleidet, durchaus auch mal aus München angereist, wünscht sich solche Highlight-Konzerte, die im wunderbaren Holzsaal auch einfach grandios klingen.
Offene Münder sind allgegenwärtig, das Publikum ist beeindruckt von Lautstärke und Virtuosität, vielleicht weniger interessiert an den musikalischen Feinheiten. Dabei ist genaues Zuhören an diesem Abend durchaus erhellend.
Im Vergleich zu den Olympioniken hat die weltweit auftretende Buniatishvilli eine klare Vorstellung, wie ihr Tschaikowski klingen soll. Ob ihre Vorstellung auch passend zum Werk ist? Besonders der erste Satz mit seiner majestätischen Eröffnung wirkt arg schnell, auch weil die junge Pianistin die älteren Herren im Orchester nicht immer überzeugen kann, ihr zu folgen. Menahem Pressler hätte sicher seine Einwände gehabt, denn in seinen Meisterkursen gibt er sich als strenger Kämpfer für den Notentext.

Keine typischen Wettkämpfer

„Ich wusste tatsächlich vorher, dass diese Einwände kommen“, sagt KlavierOlymp-Gewinner 2017 Emre Yavuz, den Pressler für seine Freiheiten in Schuberts A-Dur Sonate ausdauernd kritisiert. „Eine Sonate verpflichtet“, so Pressler, der Yavuz nebenbei plaudernd Tipps für seinen Anschlag und dessen kommendes Beethoven-Klavierkonzert gibt — der Olymp-Gewinner darf mit Orchester beim „Sommer“ auftreten. Ob er Yavuz’ Herangehensweise an Schubert beeinflussen kann, bleibt offen; der junge Musiker wirkt eigen, sehr sicher. Er hofft auf ein erfolgreiches Konzert und mehr Engagements in Kissingen. Wettbewerbe will er allerdings nicht mehr spielen. „Ich will mein Programm nicht danach auswählen, was einer Jury gefallen könnte“, so der Pianist.
Es scheint so, als würde der KlavierOlymp die eher ungewöhnlichen, schon recht selbstbewussten Klavierspieler anziehen, denn auch Kiveli Dörken, bei deren emotionalem Schubert-Spiel der große Pressler nicht viel zu sagen weiß, sieht sich selbst nicht als Wettbewerbs-Pianistin. „Ich habe persönlich eine Abneigung dagegen, aber sicher ist ein Wettbewerb für einige Spielertypen sinnvoll. Eine Mutprobe ist er allemal.“

„Ich will mein Programm nicht danach auswählen, was einer Jury gefallen könnte.“

KlavierOlymp-Gewinner Emre Yavuz

Anders als die großen Wettbewerbe sei der KlavierOlymp mit seiner Jury aus Agenten und Journalisten immerhin realitätsnäher als die altbekannten, die durchaus auch einen schalen Ruf bei der Auswahl der Sieger hätten.
Letztendlich, da scheinen sich die beiden Musiker einig und einigermaßen abgeklärt, sei ein Sieg bei einem Wettbewerb nur eine Chance auf einen kurzen Moment im Rampenlicht, aber keinerlei Auftritts- und Karrieregarantie. Umso schöner und intensiver ist die Gelegenheit, beim Festival von der Erfahrung und den Geschichten Presslers zu profitieren und eigene Konzerte zu spielen.

Das Festival „Kissinger Sommer“ funktioniert und wird angenommen wie eh und je, keine Frage. Warum also macht Schlömp sich und seinem Team den Stress eines kleinen Klavierschwerpunkts mit Förderung junger Talente mitten im Festival?
„Mein Ziel ist es, eine Künstlerfamilie für das Festival zu generieren, von 18-90“, spricht der Intendant über seine Vision für Bad Kissingen. Denn ein alleiniges Einladen der alternden Stars oder fremdentdeckter Talente, das sei wenig nachhaltig. Schon jetzt merkt man bei den Konzerten der jungen Pianisten eine besondere Aura, den persönlichen Austausch, ja die persönliche Ansprache und Einnahme des Publikums, die bei den Tourkonzerten im Max-Littmann-Saal nicht spürbar ist.

Das Interview mit Tilman Schlömp: Genuss statt Erziehung

© Julia Milberger
© Malte Hemmerich


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