Von Anna Vogt, 15.02.2018

Lieber locker

13 Konzerte von Oslo bis Cleveland allein im Februar: was für ein Arbeitspensum! Trotzdem präsentiert sich Isabelle Faust entspannt, fröhlich und konzentriert beim Interview. Es geht um ihr Herzensprojekt, die sechs Bach-Sonaten – teils „komplett verrückte Musik“.

niusic: In Ihrer Künstlerbiografie kann man lesen, dass Ihnen der musikgeschichtliche Kontext, das historische Instrumentarium und Werktreue sehr wichtig sind. Und weiter: „So gelingt es ihr, das Repertoire von Heinrich I. F. Biber bis Helmut Lachenmann stets vom Kern her auszuleuchten und leidenschaftlich aufzuführen.“ Sind Sie eine Spezialistin für alles?

Faust: (lacht) Ich hab genug Neugierde für jede Art von Musik, wenn sie wirklich höchstes Niveau mitbringt, egal aus welcher Epoche. Natürlich könnte man sagen, wenn man sich für Verschiedenes interessiert, ist man kein Experte für irgendwas. Und es gibt natürlich Kollegen, die sich lieber nur auf eine Sache spezialisieren und da immer tiefer reingehen. Ich versuche auf meine Art und Weise auch jedes Mal wieder, alles auszuleuchten, was an einem Werk wichtig ist.

niusic: Die sechs Sonaten für Geige und Cembalo von Bach werden gar nicht so häufig gespielt. Woran kann das liegen?

Faust: Sie sind schon sehr im historisch informierten Bereich angesiedelt. Nicht alle Geiger sind bereit, mit einem Cembalo zu spielen, da muss man auch einen Schritt weiter gehen hin zur Barockgeige. Mit Klavier würde diese Sonaten heute kaum mehr einer spielen, auch wenn es das früher gab, etwa mit Glenn Gould. Das sind auch keine Show-off-Stücke wie die Partiten und Solosonaten, die Geige muss hier mit dem Cembalo wirklich eins werden. Daher habe ich auch für die Aufnahme nicht meine Stradivari benutzt, sondern eine Barockgeige von Stainer, und die passt sich wunderbar dem Cembaloklang an. Sie gibt auch eine etwas rundere und dunklere Seite mit hinein, die dem Cembalo nicht gegeben ist, das ja einfach sehr hell und brillant klingt.

Schizophren und innovativ: Bachs Sonaten BWV 1014-1019

niusic: Inwiefern fühlt sich eine Barockgeige beim Spielen anders an als eine moderne?

Faust: (überlegt) Eine Barockgeige ist vielmehr auf Entspannung ausgerichtet. Irgendwann wurden die Barockgeigen umgebaut, weil die Säle immer größer wurden und es größere Klänge brauchte, und da kam dann einfach viel mehr Druck auf die Geige, damit sie mehr Power hat. Die Barockgeige dagegen wird auch durch das Spielen mit Barockbogen und durch die tiefere Stimmung – wir spielen auf 415 Hz – befreit.

niusic: Hilft dafür auch die Bogenhaltung? Sie halten den Bogen nicht am Frosch, sondern viel weiter oben …

Faust: Ja, denn der Barockbogen ist viel leichter als der moderne. Der Schwerpunkt liegt anders beim Barockbogen, unter anderem weil er keinen metallenen Frosch hat. Dadurch hält man ihn an einer anderen Stelle. Mit dem modernen Bogen hat man größtmöglichen Kontakt zur Saite, kann sehr Legato spielen, der Barockbogen geht viel lockerer von der Saite und hat viel mehr Sprechendes im Klang. Man kann gar nicht viel falsch machen in der Artikulation, weil der Barockbogen das gar nicht erlaubt. Man braucht auch weniger Kraft. Alle Barockgeiger sehen daher viel entspannter aus als die modernen Geiger.

niusic: Klingt so, als ob sich die Sonaten damit quasi von selbst spielen?

Faust: Nein, man muss natürlich sehr genau wissen, wie man mit der Musik umgeht, zum Beispiel wann man Vibrato nutzt, wie man die Tanzsätze spielt oder wie die einzelnen Stimmen in den Fugen gut herauskommen. Vor allem aber muss man sich harmonisch mit dem Stück gut auskennen. Der Bass ist daher bei diesen Sonaten so wichtig – man kann von Grund auf falsch liegen, wenn man den nicht beachtet.

„Eine CD wie das Bach-Album ist immer nur ein momentaner Vorschlag.“

Isabelle Faust

niusic: Stichpunkt „Werktreue“ – was bedeutet das für Sie denn konkret?

Faust: Werktreu heißt nicht, piano und forte zu beachten, sondern zu Bachs Zeiten wurde vorausgesetzt, dass man den „Text“ möglichst genau anschaut, aber dann aus dem Text heraus eben Schlüsse zieht für die eigene Interpretation. Zugleich sind wir natürlich heutige Musiker und spielen für ein heutiges Publikum, und daher muss man – gerade bei einer schwierigen Quellenlage – am Schluss auch oft einfach so entscheiden, wie es sich schlüssig anfühlt. Eine CD wie das Bach-Album ist immer nur ein momentaner Vorschlag, von dem man natürlich in dem Moment, wenn man es aufnimmt, auch überzeugt sein sollte.

niusic: Also gehört zu Ihrem Probenalltag, dass Sie auch mal eine Stunde am Schreibtisch verbringen und historische Quellen studieren?

Faust: Ja, schon. Diese unendlich vielen Flüge und die Warterei am Flughafen sind dafür auch sehr nützlich (lacht).

niusic: Sollte denn dann auch das Publikum historisch informiert sein? „Versteht“ man so einen Bach auch, wenn man gar nichts mit dem Begriff „Werktreue“ verbindet?

Faust: Ich bin sicher, dass jeder, der sein Herz öffnet und unvoreingenommen so eine CD mit Konzentration und vielleicht nicht im übermüdeten Zustand anhört, eine Art von Zugang dazu findet. Und dafür muss man einfach nur das Ohr gut aufmachen, was heutzutage, glaube ich, schon gar nicht mehr so einfach ist. Dafür muss man nicht musikwissenschaftlich erzogen sein, aber man braucht eine gewisse Hörhygiene und Offenheit. Im Konzert ist das oft einfacher. Dann können die Leute nicht wie bei Spotify nach zwei Sekunden auf das nächste Stück klicken, sondern müssen da sitzen und es sich anhören. Und auch der physische Aspekt des Musizierens packt das Publikum dabei noch mehr.

„Wenn Bach uns heute im Konzert hören würde, würde er uns wahrscheinlich einen Vogel zeigen.“

Isabelle Faust

niusic: Warum versucht man überhaupt, Bach heute so zu spielen, wie er zu seiner Zeit geklungen hat und spielt keinen „modernen“ Bach des 21. Jahrhunderts?

Faust: Das ist ja sowieso ein illusorischer Gedanke; wir werden Bach nie so wie zu seiner Zeit spielen können. Aber ich möchte Bach möglichst gut verstehen. Und das ist einfacher für mich, wenn ich mir auch eine Barockgeige, einen Barockbogen, die Darmsaiten und in dem Fall nicht unbedingt einen Steinway, sondern ein Cembalo dazu hole. Dadurch komme ich viel näher ran an die Klangwelt, die Bach vorschwebte oder die er gewohnt war. Natürlich: Wenn Bach uns heute im Konzert hören würde, würde er uns wahrscheinlich einen Vogel zeigen (lacht). Aber noch mehr vermutlich, wenn er die Musik mit einem modernen Bogen und viel Vibrato hören würde. Diese Musik ist so stark, und wir spielen sie historisch informiert, damit diese Musik noch sprechender und farbiger und rhetorischer rüberkommt.

niusic: Sie und der Cembalist Kristian Bezuidenhout wirken sehr gut eingespielt. Wie viel haben Sie für diese Aufnahmen geprobt?

Faust: Wir haben den großen Vorteil gehabt, schon seit Jahren diese Sonaten zusammen in Konzerten zu spielen. Wir konnten das wirklich luxusmäßig in uns reifen lassen. Man muss sich in diesen Stücken wirklich absolut zusammenfinden, eine gemeinsame Sprache finden, man muss sie immer wieder spielen – und auch immer mal wieder weglegen.

niusic: Wie proben Sie denn ganz konkret? Über Bilder? Über Sprache? Über Ausprobieren?

Faust: Natürlich suchen wir schon Charaktere und Adjektive oder sprechen über Emotionen, die transportiert werden sollen. Aber nicht über konkrete Bilder wie „hier stell ich mir den Schäfer mit Flöte vor“ oder so, das nicht. Die Artikulation kommt auf jeden Fall auch von der Vorstellung von Sprache, an manchen Stellen denkt man dabei eher an Konsonanten, an anderen an Vokale. Das Proben hat viel mit Analyse zu tun, aber auch mit instinktiver Analyse. Man muss einfach gemeinsam mit dem musikalischen Material immer vertrauter werden.

niusic: Haben Sie eine Lieblings-Sonate?

Faust: Ich liebe es, die letzte der sechs Sonaten zu spielen, Sie fängt an mit einem spritzigen Präludiumssatz, das ist so ein Feuerwerk! Es ist auch die einzige Sonate, die einen Satz mehr hat, nämlich einen unglaublichen Cembalo-Solosatz, ich kann dabei einfach nur zuhören und genießen (lacht). Die f-Moll-Sonate dagegen haben wir ein wenig vor uns hergeschoben und uns erst spät erarbeitet, weil die sehr schwer fassbar ist. Im ersten Satz weiß man nicht genau, wo die Musik eigentlich hinwill. Die Geige gibt am Anfang nur kurze Kommentare dazwischen, am Schluss nimmt sie den vollen Part mit auf. Dieser Satz ist wirklich sehr abstrakt. Und im dritten Satz spielt die Geige nur wellenartig Akkorde, und das Cembalo dazwischen Arabesken: Das ist ganz schwer fassbar. Diese Sonate hat uns am Anfang wirklich Angst gemacht, aber inzwischen ist sie wahrscheinlich zu unserer Lieblingssonate avanciert, weil man immer mehr das Besondere in ihr sieht, umso mehr man sich mit ihr auseinandersetzt. Komplett verrückte Musik!



niusic: Spielt man solche Sonaten mit 15 anders als mit 40?

Faust: Ich denke schon. Das hat mit der Lebenserfahrung zu tun, die Emotionen verfächern sich und bekommen andere Facetten dazu. Auch als Kind kann man sehr tief empfinden, aber es ist ein instinktives Empfinden. Mit dem Alter kommt auch viel mehr Kopfiges mit hinein, was die Sache verändert. Aber eben auch das Wissen, der Kontakt zu den historisch informierten Musikern – man sollte eigentlich schöner sagen: historisch interessierten! – hat mein Bach-Spiel sehr verändert und mich dazu gebracht, von dieser sehr romantischen Art, Bach zu spielen, wie ich das im Studium gelernt habe, abzukommen und mit Bach nochmal von vorn anzufangen. Und dann wird man Mutter und empfindet vielleicht die Musik auch wieder anders ... Das ist ja das Tolle an dieser Musik: Dass sie in so vielen verschiedenen Lebenslagen komplett unterschiedlich interpretiert werden kann; man kann auch Jazz daraus machen, ohne diese Musik zu zerstören.

niusic: Für mich bleibt Bach als Mensch sehr ungreifbar. Welches Bild haben Sie von ihm?

Faust: Trotz all dem, was er tagtäglich abliefern musste, und dann noch seinen vielen Kindern, hat dieser Mann die Energie gehabt, ganz neue Gefilde zu betreten, die bis heute eigentlich niemand übertreffen konnte. Es muss schon in ganz außergewöhnlicher Geist gewesen sein. Und auch jemand, der mit einer gewissen Leichtigkeit geschrieben hat. Ein Genie, der aber mit großem Ernst bei der Sache war und die Dinge nie auf die leichte Schulter genommen hat. Diese Art von Leben … unfassbar aus heutiger Sicht!

niusic: Ein Workaholic …

Faust: Ja, aber Bach war sicher auch ein Mensch, der ganz tief philosophisch geschrieben hat und auch von der Religion natürlich tief durchdrungen war, das war damals aber auch normal.

niusic: Was kann Bach uns heute geben?

Faust: Die Fähigkeit, eine Konzentration aufzubringen und in sich hineinzuhören, wie man sie bei jeder tiefen Musik braucht – und bei Bach noch viel mehr. Und: Bach ist absoluter Trost in Form von Musik, und das ist etwas sehr Wertvolles.


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Johann Sebastian Bach

Sonatas For Violin & Harpsichord

Isabelle Faust, Kristian Bezuidenhout

harmonia mundi

© Felix Broede
© Detlev Schneider


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